von Albert Hoffmann
Seit „Harry Potter“ ist für viele die Kinder- und Jugendliteratur-Szene nicht mehr dieselbe wie vorher. Mit der „Potter-Manie“ tauchten plötzlich Bücher auf, die wie ein Wirbelwind um den Erdball fegten. Das Phänomen „Harry Potter“ bezog sich nicht nur auf England, seinem Ursprungsland. Sehr bald schon wurde es als erdumspannendes Ereignis betrachtet: ein „klassisches“ Kinder- und Jugendbuch, das als Erstes seiner Art eine so noch nicht gekannte globale Dimension erreichte. Nicht nur dass es in verschiedenen Ländern gleichzeitig erschien, in je einer speziellen Ausgabe für die Erwachsenen und für die Jugendlichen: Jugendliche rund um den Erdball warteten Stunden, Tage und Nächte in Buchhandlungen auf die Neu-Erscheinung, die Übersetzungen starteten teilweise noch in derselben Nacht. Kann man dies anders nennen als Globalisierung des Buchmarktes?
Was ist Globalisierung?
Als „Globalisierung“ werden die zunehmenden weltweiten Verflechtung in vielen Bereichen
verstanden: Wirtschaft, Politik, Umwelt, Kommunikation.
In wirtschaftlicher Hinsicht reicht diese Verflechtung durchaus bis ins Kinderzimmer. Hier finden sich weltweit bekannte Markenprodukte, die den Alltag der Kinder und Jugendlichen heute bestimmen.
Globalisierung findet sich aber auch im kulturellen Bereich, wie etwa in dem Geschehen rund um die Kinder- und Jugendliteratur. Interessanterweise nicht erst seit „Harry Potter“. Hier trat sie nur am augenscheinlichsten zutage.
Beginn der Globalisierung
Für so manche startete der Globalisierungsgedanke mit den von Europa hinausfahrenden Entdeckern, Erforschern und Eroberern: Christoph Kolumbus, Ferdinand Magellan, James Cook oder Alexander von Humboldt. Diese Protagonisten gingen in die Kinder- und Jugendliteratur ein – und stehen bis auf den heutigen Tag hoch im Kurs.
Im Gegensatz zum aktuellen Globalisierungsbegriff, der sich in erster Linie als Folge des technischen Fortschritts entwickelte, ließ sich die Menschheit rund um den Erdball schon viel früher von Büchern und Geschichten faszinieren: in „Globalisierungsaktionen“, die noch ohne diesen Begriff auskamen. Gedanken und Geschichten, ob in Buchform gedruckt oder nicht, ließen sich noch nie von politischen Grenzen aufhalten. Sie übersprangen letztlich sämtliche Barrieren.
Geschichten und Bücher wurden auch in der Vergangenheit schon „global“ geliebt.
Von den griechischen Götter- und Heldensagen zum Beispiel waren nicht nur die Griechen und Griechinnen fasziniert. Wen wundert es, dass sie nicht nur zum Anhören, sondern auch zum Nachmachen verleiteten. In ähnlicher Weise bewundert wurden über die Grenzen hinweg die nordischen Sagas sowie der Sagenkreis um König Arthus.
Oder die sehr plastisch und lebensnah erzählten Geschichten des Alten Testaments, die von Anfang an global angelegt waren. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, diese nur einem bestimmten Territorium zuordnen zu wollen. Einen interessanten Aspekt stellt die Geschichte der Sintflut dar. Sie taucht in ähnlicher Weise in den mythologischen Erzählungen vieler Kulturen auf; in der Regel als göttlich veranlasste Flutkatastrophe, die die Vernichtung der Menschheit zum Ziel hatte.
Da gibt es das Phänomen der „Wandersagen“, Geschichten also, die irgendwann einmal um die Welt gingen und mit kleinen Veränderungen und lokalen Anpassungen an vielen Orten zu finden sind. Wie das Aschenputtel-Thema oder die Vater-Sohn-Tier-Geschichte, die für den deutschen Sprachraum Johann Peter Hebel unter dem Titel „Man kann es nicht allen Leuten recht machen“ veröffentlichte. Sein Lasttier ist der Esel, Südostasien jedoch setzt auf den Wasserbüffel.
Ein weiteres Beispiel für eine sehr früh in globaler Breite auftauchende Erzählform sind die Fabeln. Aesops Fabeln gehen seit 600 vor Christus von Griechenland aus um die Welt. Dasselbe geschah und geschieht mit den Fabeln anderer Dichter, Dichterinnen und Völker, auch wenn diese nicht die Berühmtheit der aesopschen erreichen. Jedes Volk kann auf einen Fabel-Schatz anonymer Dichter und Dichterinnen zurückgreifen.
Auch im 19. und 20. Jahrhundert lassen sich weltumspannende Gedanken, in Buchform niedergelegt, immer wieder finden. Die von den Brüdern Grimm in Hessen gesammelten (und umformulierten) Märchen traten einen erstaunlichen Siegeszug um die Erdkugel an, der bis heute anhält.
Später waren es im deutschen Kinder- und Jugendbuchbereich die Bücher von Erich Kästner, für die sich Menschen rund um den Globus interessierten. In den 1960er Jahren trat Michael Ende mit „Momo“ und „Die unendliche Geschichte“ auf das globale Parkett. Inzwischen übernimmt diesen Part Cornelia Funke mit „Herr der Diebe“, „Drachenreiter“, vor allem aber mit ihrer „Tinten“-Trilogie. Das TIME Magazine zählte sie 2005 zu den 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten.
Die anglo-amerikanische Literatur als Global Player
Auch wenn die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur sich weltweit ganz gut behauptet, muss man der englischsprachigen Kinder- und Jugendliteratur die Rolle des großen Global-Players zusprechen. Das hat mehrere Ursachen, wohl die wichtigste ist: Englisch wird auf der ganzen Welt gelehrt und gelernt. Ein Blick auf die Dauer-Seller auf dem deutschen Buch-Markt zeigt dies deutlich – hierzu gehören zum Beispiel: „Moby Dick“ (Herman Melville, USA), „Huckleberry Finn“ (Mark Twain, USA), „Gregs Tagebuch“ (Jeff Kinney, USA), „Harry Potter“(Rowling, Joanne K., England), die „Biss“-Bücher (Stephenie Meyer, USA), die Reihe „Das magische Baumhaus“ (Mary Pope Osborne, USA), die „Gänsehaut“-Reihe (R.L. Stine, USA), die „Sternenschweif“-Bücher (Linda Chapman, England), der „Zauberer von Oz“ (L. Frank Baum, USA), „Peter Pan“ (J. M. Barrie, Schottland), die „Beast Quest“-Reihe (Adam Blade, England) und „Oliver Twist“ (Charles Dickens, England).
Zur „Globalisierung der Bücherwelt“ gehört natürlich auch das rein geschäftliche Handeln mit dem physischen Buch. Es ist heutzutage an der Tagesordnung, Bücher in dem Land drucken zu lassen, in dem es am kostengünstigsten ist. So kann Folgendes gut sein: Der Verlag hat seinen Stammsitz in Deutschland, der Autor kommt aus Frankreich, das Buch wurde ins Deutsche übersetzt, gedruckt wird es aber in Malaysia. Es geschieht auch, dass Verlage eine „Filiale“ in einem anderen Land (mit einer anderen Sprache) eröffnen. Nicht alles, was deutsch klingt, ist im Besitz von Deutschen. So gehören die Verlage Carlsen, Thienemann und Ars Edition zur Bonnier-Gruppe (Schweden), die Egmont VerlagsGruppe hat einen dänischen Besitzer.
Neue Entwicklung
Möglicherweise wird in den nächsten Jahren eine weitere Stufe der Globalisierung im Kinder- und Jugendbuchbereich erreicht. So manche wunderschöne Buchhandlung wurden bereits Opfer des Weltweit-Nummer-Eins-Buch-Verkäufers Amazon. Im Augenblick schickt sich der Riese an, ganze Verlage aufzukaufen und damit in das Publishing-Geschäft einzusteigen. Als Folge davon – aber das ist nun spekulativ – könnten sich viele Autoren/Autorinnen und Illustratoren/Illustratorinnen zu Amazon hingezogen fühlen, der weltweiten Verbreitung ihrer Arbeiten wegen. Das würde jedoch für viele kleine Verlage, die wichtige Kulturträger ihrer Sprachgebiete sind, das Aus bedeuten.
Dieser Exkurs soll jedoch nicht zu trist enden. Umbruch und Wechsel gab es in der Geschichte der Menschheit immer, das gehört zum Menschsein dazu. Jede Änderung bringt Neues hervor, das wiederum von zwei Seiten betrachtet werden kann. Zum Glück ist uns Menschen als intelligenten Wesen Flexibilität und Kreativität mitgegeben, mit deren Hilfe wir auf neue Entwicklungen reagieren können. Die Zukunft bleibt spannend!