Geschrieben von Prof. Dr. Dieter Spanhel
Bilder als Mittel der Kommunikation
Eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit bildete die Verwendung von Zeichen, mit denen sich die Menschen untereinander verständigen konnten. Die ersten Zeichen, Mimik, Gestik und Laute, waren noch an den Körper gebunden. Sie machten es möglich, eigene Gefühle, Bedürfnisse oder Absichten mitzuteilen, andere zum Handeln aufzufordern, vor einer Gefahr zu warnen oder auf Dinge in der Nähe hinzuweisen. Gegenüber diesen zeitlich, räumlich und inhaltlich sehr begrenzten Zeichen brachte die Erfindung der Bildzeichen einen enormen Fortschritt in der kulturellen Entwicklung. Mit Hilfe der Bilder auf Höhlenwänden, auf Stein oder Ton konnten sich die Menschen nun viel genauer über die Welt, über ferne Gegenstände oder zurückliegende Ereignisse verständigen.
Vertraute Bilder aus der Alltagswelt
Mit den Bildern ließen sich Erfahrungen und Erkenntnisse auch an nicht anwesende Personen und künftige Generationen weitergeben. Ein Betrachter konnte die Bildzeichen auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit „lesen“ und verstehen und ihnen aus einem gemeinsamen Lebenszusammenhang heraus Bedeutung zuschreiben. Wenn wir heute mit unseren Kindern Bilderbücher lesen, ist die Situation ganz ähnlich. Kinder verstehen die Bilder, weil sie eine Ähnlichkeit mit vertrauten Dingen aus ihrer Alltagswelt haben. Bilderbücher erwecken ihre Neugier und erweitern ihre Erfahrungen, weil sie die Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen und Dinge oder Sachverhalte präsentieren, die sie noch nicht kennen.
Bilder mit individueller Bedeutung
Aber viele Bilderbücher sind zweisträngige Texte. Bildzeichen und abstrakte verbale Zeichen in Schriftform sind miteinander kombiniert und ergänzen sich in ihren Botschaften. In den Boardstories von Onilo ziehen die animierten Bilder sogleich die ganze Aufmerksamkeit der Kinder auf sich. Diese Bilder sind „motivierte Zeichen“, weil der Zeichner darin seine persönliche Sicht der Wirklichkeit, seine Gefühle und Wertungen zum Ausdruck bringt. Er stellt Dinge oder Ereignisse in neue Zusammenhänge, vereinfacht, verfremdet oder reichert sie mit Details an. Die bewegten Bilder dringen über die sinnliche Wahrnehmung unmittelbar in die Tiefenschichten des Kindes ein. Sie sprechen es in seinen persönlichen Erfahrungen, Gefühlen, Bedürfnissen und Sehnsüchten an. So erhalten die Bilder eine individuelle Bedeutung und schlagen jedes Kind in ihren Bann. Kein Kind kann sich diesen unbewussten Wirkungen eines Bildes entziehen.
Kinder wollen verbale Zeichen entschlüsseln
Je stärker die Bildeindrücke, desto mehr verlangen sie nach Ausdruck. Die Kinder wollen ihre Geschichte zu den Bildern erzählen. Dabei kommt Sprache ins Spiel; es entsteht eine soziale Situation. Die Kinder wollen hören, was die anderen gesehen haben und sich darüber austauschen. Jedes Kind erzählt eine andere Geschichte: Bilder sagen mehr als tausend Worte. Aber welche ist die wahre Geschichte, die der Autor erzählen wollte? Im Text ist sie verborgen. Jetzt sind die Kinder motiviert zum Lesen. Sie wollen die verbalen Zeichen entschlüsseln. In dem Zusammenspiel von Text und Bildern fällt es ihnen leicht, den Sinngehalt der Geschichte zu konstruieren. Der Text bringt nun die Fülle der Bildeindrücke in eine Ordnung und gibt ihnen eine klare Ausrichtung. Durch die Bilder werden die abstrakten verbalen Zeichen des Textes mit konkreten Vorstellungen verbunden und erhalten eine inhaltliche Ausfüllung.
Bilder motivieren Kinder zum Lesen
Bilderbücher motivieren zum Lesen, weil die Bilder den Kindern einen Zusammenhang mit ihren eigenen Gefühlen, Erfahrungen, ihrem Vorwissen und ihrer Lebenssituation eröffnen. Dadurch wird der gelesene Text für die Kinder lebensbedeutsam, erschließt ihnen neue Sinnzusammenhänge. In Verbindung mit den Bildern bereitet das Lesen zugleich ein ästhetisches Vergnügen.