Artikel in der Tageszeitung “Der Neue Tag” vom 28.09.19.
der_neue_tagArchiv für den Monat: September 2019
Auf leisen Sohlen durch die Nacht
Wohl die schönsten Werke im Bereich Kinderbuch sind diejenigen, die den Leser nahezu ganzheitlich für sich einnehmen, in denen die Bildkunst ihre ästhetische Wirkung entfalten und gleichwertig mit dem Text auf den Leser wirken darf. Das aus dem Französischen übersetzte großflächige Buch „Auf leisen Sohlen durch die Nacht“ von Marie Dorléans ist so eine Kostbarkeit, die man nicht wieder aus der Hand legen möchte.
Dabei ist die Geschichte selbst eher bieder. Eine Familie macht sich frühmorgens zu einer Wanderung auf. Im fahlem Morgenlicht stapfen sie durch das noch schlafende Dorf. Die Gassen sind noch warm vom Tag, ein Hund streift umher, das Hotel strahlt wie ein Kronleuchter. Ihr Weg führt sie auf einen Berg, dem Ziel ihrer Unternehmung.
Die große Action bleibt aus, doch das Erleben dieser blauen Stunde, des Werdens eines neuen Tages ist für die zwei Kinder Abenteuer genug. Die Luft riecht nach Schwertlilien und Geißblatt. Das Häuschen am Ende des Dorfes har nur noch ein Auge geöffnet. Sie nehmen den erdigen Geruch nach trockenem Gras wahr, auch den Gesang der Heuschrecken. Was sie erleben, geht tief: Die Sommernacht ist wunderschön, das Schauspiel am Himmel mit seinen Abermillionen funkelnden Sternen raubt ihnen den Atem. Am Gipfel angelangt gibt es aber doch noch die Belohnung für ihre Mühen. Das allumfassende tiefe Blau weicht zurück, als hinter den weichen Bergkuppen die Sonne aufgeht, Stück für Stück, fast schon ein wenig theatralisch, ein Geschenk der Natur, für Kinder und Erwachsene ein Erlebnis, immer wieder und immer neu. Am Ende verstummen die Worte, jeder Kommentar ist überflüssig. Die Bilder können die Schönheit besser einfangen. Gewaltig, geradezu berauschend.
Ein Buch wie ein Film, nein, mehr als ein Film. Besser kann man die Wirkung der Natur, der Schöpfung, wohl nicht einfangen.
Der magische Fuchs
Nach altpersischen Vorstellungen durchdringt eine transzendente Kraft den Kosmos, die man sich mithilfe von Magie zunutze machen kann. Das muss Mira intuitiv gespürt haben, denn sie griff auf dieses Mittel zu, als es nötig war.
Dabei war ihr Umwelt nach außen hin völlig in Ordnung: ein Haus auf dem Land, in dem sie sich wohlfühlte, der Waldbäume vor ihrem Fenster, denen sie manchmal zuwinkte.
Aber alle Harmonie ist dahin, wenn ihre Eltern zu streiten beginnen. Warum? Das weiß Mira nicht, möglicherweise auch wegen ihrem Spielzeug, das über die halbe Wohnung verstreut ist. Und komisch, kaum schwebt eine solch ungute Stimmung durch das kleine Haus, verformt sich Bett, Tisch und Puppe. Alles ist plötzlich spitz, kantig und eckig. Sogar die Äste ihrer Lieblingsbäume werfen unheimliche Schatten.
Zum Verzweifeln? Nein, es gibt ja noch den weißen Fuchs, Mira kennt ihn. Es ist der magische Fuchs. Schon steht er vor ihrem Fenster. Bereit zum Zuhören. Und schon erzählt ihm Mira ihre Sorgen rund um Papa und Mama. Aufmerksam hört er zu, bis Mira alles gesagt hat. Er versteht sie, er versteht alles, das spürt Mira. Dann dreht er sich um und läuft in den Wald zurück.
Und siehe da, welch Überraschung! Kaum ist der magische Fuchs weg, hört Mira aus der Küche lautes Lachen. Papa und Mama können wieder lachen. Und all die Ecken, Spitzen und Kanten? Die sind wieder rund, so wie früher.
Heinz Janisch, der Autor, weiß sehr genau um die Gefühle und das Denken der Kinder. Mit einfachen, wenigen Worten gelingt es ihm, die Tiefen der Kinderseele an Licht zu holen. In seinen Worten und Erzählungen finden sich die Kinder wieder. Er beschreibt ja ihre Sorgen und Nöte, wie sie sind. Nicht einmal für sie ist die Welt rosarot, Unstimmigkeiten und Gefahren lauern überall. Gut, wenn man auf ein Mittel zurückgreifen kann, das wie eine schmerzlindernde Salbe wirkt.
Nicht nur ein magischer Fuchs besitzt Heilungs-Qualitäten, auch solch ein Buch hat sie. Oder ist Heinz Janisch selbst der Fuchs dieses Buches?
Die zweite Arche
Gott schickte die Sintflut bekanntlich als Strafe über die Menschheit, mit der er sehr unzufrieden war. Einzig den untadeligen Noah beauftragte er, eine Arche zu bauen, um damit sich, seine Familie sowie alle Tiere zu retten. Doch schaffte es Noah tatsächlich, allen, die einen Anspruch auf einen Platz in der Arche hatten, mitzunehmen?
Nicht ganz, Alef zum Beispiel, war nicht im Boot, als Noah die Leinen losließ. Und mit ihm eine Reihe anderer, seltsamer und exotischer Gestalten. Das Einhorn etwa, zwei Zentauren, ein Pegasus, die Sphinx und der Vogel Greif. Sie waren entweder zu spät oder hatten den Aufruf Noahs gar nicht erst mitbekommen.
Zum Glück war Alef , der auch zur großen Familie des Archebauers gehörte, einer wie Noah: kühn, zupackend, entscheidungsfreudig. Es brauchte nicht lange – und schon hatte er beschlossen: Wir bauen eine weitere Arche. Die Zustimmung von allen Seiten war ihm sicher.
So wurde auch die Arche Nummer 2 vor dem einsetzenden großen Regen fertig. Zyphius, halb Fisch, halb Drache, schwamm neben ihnen her. Alles verlief nach Plan. Nach 44 Tagen blieb Alefs Arche stehen. Er selbst suchte die Menschen auf und lebte glücklich unter ihnen.
Eine Kopie des Bibel-Originals? Nicht wirklich. Es wäre keine Heinz-Janisch-Geschichte, gäbe es keine Brüche mit der Erzählung, die von Kindheit an als Kulturdenkmal in unseren christlich-abendländischen Köpfen festsitzt. In einer Rede an seine exotischen Mitreisenden gibt Alef wohl auch Janischs Grundidee kund: „Wir sind anders als die anderen, und das ist gut so. Sie brauchen uns.“ Langeweile gibt es bei diesem Autor nicht. Unübliche, verquere Gedankengänge mit versöhnlichem Ende sind seine Spezialität. Vielleicht passen seine Erzählungen gerade deshalb so gut in unsere Zeit.
Die Schlacht von Karlawatsch
Das hätte nicht passieren dürfen: ein Tropfen Eiscreme auf einen Hund! Genauer gesagt, ein Tropfen Eis von den Blauen hat einen Hund der Roten. Ob versehentlich oder nicht, das spielt hier keine Rolle, hier geht es um den Tatbestand einer Belästigung, ja Beleidigung der Roten generell, die nicht ohne Folgen bleiben kann. Das sehen alle Roten so, das verstehen aber auch die Blauen gut. In Windeseile tauchen die ersten Fahnen auf, Schals werden zu Peitschen, Trommelwirbel, auffordernde Trompetenstöße, Schimpftiraden, die ganze Maschinerie der Aufrüstung kommt in Schwung. Rüstungen werden hervorgeholt, je martialischer, bombastischer und monströser, umso besser. Von Feldherren auf dem Hügel gelenkt steuern die Eisenwesen – als Menschen sind sie kaum mehr erkennbar – aufeinander zu. Dann fliegen sie, die dornengespickten Hüte und die kleinen, silbernen Knöpfe. Als das nicht ausreicht, besinnt man sich der Teile der eigenen Rüstung, auch sie eignen sich als Wurfgeschoße. Kurz darauf ist der Kampfplatz zugemüllt in Blau und Rot. Barfuß und in Unterhosen stehen sie nun herum, als Menschen wieder erkennbar, jedoch rat- und orientierungslos zunächst.
Als aber einer „Ich habe Hunger“ ruft, wendet sich das Geschehen zum Guten. Vereint wandern Blau und Rot dem Feuer- und Bratwurstgeruch nach, dem Frieden entgegen.
Ähnlich einer Parabel lehrt diese letztlich heitere Geschichte Entstehung und Auflösung von kriegerischen Akten. Das Ungemach, das erhitzte, kopfgesteuerte Gemüter in die Welt gesetzt haben, wird durch den Bauch, der hier für die elementaren menschlichen Bedürfnisse steht, wieder nivelliert.
Ein so komplexes Thema auf einfache, überzeugende Bilder und Worte herunter zu brechen ist eine Kunst. Bilderbücher, die solcherlei Aufklärungsarbeit in beschwingter Form leisten, darf man als Schätze betrachten.