Nicht immer erzählen Bilderbücher liebe, nette Geschichten. Das Buch “Eine Wiese für alle” fällt aus diesem Rahmen. Es beginnt mit: “Stell dir vor, du bist ein Schaf.” Neben diesem Satz steht das Schaf und schaut dir in die Augen; will sagen: ich bin du, du bist ich. Und somit ist der Leser mittendrin im Geschehen. Rundum weitere Schafe auf einer herrlich saftigen Wiese. Alles paletti so weit, vom Meer ist man durch eine hohe Klippe geschützt.
Eines Tages aber droht Ungemach: ein etwas dunkleres Schaf nähert sich in einem geflickten, nicht seetüchtigen Boot und bittet um Aufnahme. In seiner Heimat gab es Wolfsalarm, ein Flüchtling also. Ja, ja, man ist bereit zu helfen. Und schon fliegt ein leerer Eimer hinunter, damit der Dunkle das Wasser aus seinem lecken Boot schöpfen kann. Mehr geht leider nicht. Der Leser ahnt, wie die Geschichte enden wird. Es kommt die Flut – o Gott! – die Schafe oben auf der saftigen Wiese schließen die Augen. Im Buch folgen mehrere komplett schwarze Seiten.
Zum Glück gibt es einen zweiten Schluss. Das dunkle Schaf steht plötzlich unter den weißen Schafen auf der Wiese mit dem saftigen Gras. Wie kam es dazu? “Ich hatte zum Glück Hilfe”, meint es – und schaut dem Leser, seinem Helfer, in die Augen.
Das Thema Migration ist schon längst in der Kinderliteratur angekommen. Auch wenn Kindern “Lesbos”, “Moria” oder “Flucht über das Mittelmeer” noch kein Begriff sein sollten, das Buch macht sie sensibel für das Gigaproblem des heutigen Europas. Doch es schildert und erklärt nicht aus einer erhöht-neutralen Position aus, es spricht direkt zum Leser und fordert ihn auf, aktiv zu sein. Fürs Überlegen bleibt keine Zeit, fürs Diskutieren ist es zu spät. – Glücklich die Kinder, deren Eltern die Zeit aufbringen, so ein Buch vorzulesen und mit ihnen drüber zu sprechen!