Wohl die schönsten Werke im Bereich Kinderbuch sind diejenigen, die den Leser nahezu ganzheitlich für sich einnehmen, in denen die Bildkunst ihre ästhetische Wirkung entfalten und gleichwertig mit dem Text auf den Leser wirken darf. Das aus dem Französischen übersetzte großflächige Buch „Auf leisen Sohlen durch die Nacht“ von Marie Dorléans ist so eine Kostbarkeit, die man nicht wieder aus der Hand legen möchte.
Dabei ist die Geschichte selbst eher bieder. Eine Familie macht sich frühmorgens zu einer Wanderung auf. Im fahlem Morgenlicht stapfen sie durch das noch schlafende Dorf. Die Gassen sind noch warm vom Tag, ein Hund streift umher, das Hotel strahlt wie ein Kronleuchter. Ihr Weg führt sie auf einen Berg, dem Ziel ihrer Unternehmung.
Die große Action bleibt aus, doch das Erleben dieser blauen Stunde, des Werdens eines neuen Tages ist für die zwei Kinder Abenteuer genug. Die Luft riecht nach Schwertlilien und Geißblatt. Das Häuschen am Ende des Dorfes har nur noch ein Auge geöffnet. Sie nehmen den erdigen Geruch nach trockenem Gras wahr, auch den Gesang der Heuschrecken. Was sie erleben, geht tief: Die Sommernacht ist wunderschön, das Schauspiel am Himmel mit seinen Abermillionen funkelnden Sternen raubt ihnen den Atem. Am Gipfel angelangt gibt es aber doch noch die Belohnung für ihre Mühen. Das allumfassende tiefe Blau weicht zurück, als hinter den weichen Bergkuppen die Sonne aufgeht, Stück für Stück, fast schon ein wenig theatralisch, ein Geschenk der Natur, für Kinder und Erwachsene ein Erlebnis, immer wieder und immer neu. Am Ende verstummen die Worte, jeder Kommentar ist überflüssig. Die Bilder können die Schönheit besser einfangen. Gewaltig, geradezu berauschend.
Ein Buch wie ein Film, nein, mehr als ein Film. Besser kann man die Wirkung der Natur, der Schöpfung, wohl nicht einfangen.