Wer glaubt, Kinderbücher schwebten unangreifbar auf einer ewig-gut-Wetterwolke selig dahin, liegt falsch. Kritik entzündet sich immer wieder aus pädagogischem Empfinden heraus. Was pädagogisch gut bzw. unmöglich ist, konnten auch hitzige Diskussionen über Jahrhunderte hinweg nicht wirklich klären. Objektiv feststellen kann man aber die Themen und Figuren, die in heutiger Zeit Akzeptanz erreicht haben. Dazu zählt alles rund um Zombies, die Untoten; die Wesen also, die sich immer noch unter den Lebenden herumtreiben, obwohl ihre Erdenzeit längst abgelaufen ist. Nicht nur akzeptiert, geradezu willkommen geheißen sind sie im Themenspektrum der Kinderbücher. Gruseleffekte werden hier als Kaufanreiz und Lesemotivation gesehen.
Ein neue Reihe dieser Kategorie ist “Mortina“. Hier steht ein Mädchen im Mittelpunkt: etwas schüchtern, doch niedlich und reizend, dem die Herzen aller LeserInnen schon nach der ersten Seite zufliegen. Auch wenn dieses Mädchen einen beunruhigenden Namen trägt: nicht Martina, sondern Mortina, mit “o” also, das lateinische Wort “mors” = Tod enthaltend.
Mortina, das Zombiemädchen mit ihren 6 oder 7 Jahren, weiß von ihrer Tante Dipartita um ihr Problem: eine Freundschaft zwischen Zombies und normalen Menschen geht nicht. Punkt. Für sie wird der Gartenzaun zur Festungsmauer, die sie strikt von der Außenwelt trennen soll. Dabei sieht das Nachbardorf so verlockend und einladend herüber. Eigentlich wäre alles da, was Mortina so zum Leben braucht: reichlich Essen, eine stattliche Villa mit Turm, eine sich sorgende Tante, ein Albino-Hund zum Spielen.
Doch ist das wirklich alles? Nein!
Mortina spürt in sich den drängenden Wunsch nach Lachen und Spielen in Gemeinschaft. Es ist die Einsamkeit, das Alleinsein, der Mangel an Kommunikation, was Mortina dazu bringt, (moralische) Grenzen und (feste) Mauern zu überschreiten. Not macht erfinderisch, das gilt auch für Zombies. Und siehe da, die Kinder der anderen Seite sind humaner und toleranter als erwartet. Eine offene Gesellschaft weiß auch Zombies zu integrieren. Aus der irrationalen Angst voreinander wird ein produktives, entspanntes Miteinander, Halloween sei Dank! Soweit der erste Band: “Ein Mädchen voller Überraschungen”.
Im soeben erschienenen zweiten Band “Das große Verschwinden” sind die Dorfkinder fast schon Stammgäste in der Villa Decadente. So eine alte, morbide Villa, die nicht zuletzt auch wegen ihrer seltsamer Bewohner von einer magisch-geheimnisvollen Aura umgeben ist, besitzt per se Abenteuer- und Gruselpotenzial. Normales Leben vermischt sich hier zwangsläufig mit fantastischen Vorgängen, was aber bei Kindern eher ein Plus gesehen wird. Alltag wird daheim zur Genüge geboten, die Villa Decadente, Tante Dipartita und Mortina, das Zombie-Kind, stehen für Abgedrehtheit, Zauberwelt und Sonder-Effekte.
Eigentlich war Tante Dipartita nur an biologischer Forschung interessiert, als sie anfing, liebevoll und systematisch zum Efeu im Haus zu sprechen. Nie hätte sie geglaubt, dass sie diese Pflanze dadurch zu gigantischem Wachstum animieren würde. Und es blieb nicht dabei, der Efeu griff auf Menschen über und verschlang sie geradezu. Wer von den Kindern bekommt im Dorf schon so etwas geboten?
Den Hauptanteil an der Ästhetik und der moralischen Kraft von Mortinas Geschichte tragen die genialen Illustrationen von Barbara Cantini. In diesen grazilen Meisterwerken liegt viel Wärme, stille Heiterkeit und Besänftigung inmitten all des Trubels. Die dem Text gleichgestellte Bildkunst nimmt durch ihre filigran-detaillierte, versteckt-witzige Art der Darstellung der kindlichen Angst die Spitze und vermittelt den jungen Leser von Anfang in die Gewissheit, dass alles so schlimm nicht werden wird.
Barbara Cantini ist mit diesen zwei Büchlein ein faszinierendes Werk gelungen, das sich aus urkomischen Situationen, die aus zwei unterschiedlichen Lebensentwürfen gespeist sind, aus dem potenziell unberechenbaren Miteinander von Zombies und Menschen sowie aus den gewagt-kreativen, witzig-erfrischenden Lösungsversuchen zusammensetzt.
Wünschen wir der Künstlerin die Kraft, die Fantasie und die Ausdauer, die sie als Autorin und Illustratorin braucht, um noch viele Bände dieser Art den Grundschülern dieser Welt zu schenken. Sie stellen die beste Werbung für das Lesen dar. Ob Leseprofi oder Video-Fan – Mortina schafft es, alle zu begeistern.