So skurril wie Gullivers Reise-Erzählungen selbst ist auch die Geschichte des Buches, das vor 300 Jahren von dem anglikanischen Priester Jonathan Swift aus Dublin geschrieben wurde und zu den meistgelesenen Büchern der Welt zählt. Obwohl es immer wieder neu aufgelegt wird und schon mindestens acht Mal verfilmt wurde, streitet man immer noch darüber, ob es eher ein Kinder-, ein Jugend- oder doch besser ein Erwachsenenbuch ist. Und obwohl hier pausenlos Reisen beschrieben werden, hat es doch mit Reiseliteratur nichts zu tun. Sicher ist nur eines: Es ist – zumindest in dieser herrlichen Atrium-Ausgabe, von Erich Kästner brillant nacherzählt – ein leicht lesbares, fantasievolles, satirisch-kritisches Buch.
Wie einst auch Robinson Crusoe ist Lemuel Gulliver, J. Swifts Protagonist, auf den Weltmeeren zu Hause. Er gerät in einen Sturm und wird als Einziger an den Strand einer kleinen Insel gespült. Im Gegensatz zu Crusoe’s Eiland ist Gullivers Insel von den zwergenhaften Liliputanern besiedelt.
Mit dem Arrangement “Der Große und die Kleinen” und dem satirischen Blick im Hinterkopf treibt J. Swift nun süffisant seinen Schabernack und läuft dabei literarisch zur Höchstform auf. Witzige und freche Szenen wechseln sich mit menschlich-tiefsinnigen ab, köstlich die Anspielungen auf menschliche Eitelkeiten, Eifersüchteleien und politische Ungereimtheiten, der moralische Zeigefinger neben den groben Handlungen – alles findet sich hier, was die reale Welt auch zu bieten hat.
Vom Gefangenen arbeitet sich Gulliver zum Liebling und Würdenträger des Kaisers empor. Schließlich verhindert er einen Krieg dadurch, dass er dem Nachbar-Zwergenreich kurzerhand 50 Kriegsschiffe wegnimmt. Als der kaiserliche Palast lichterloh brennt und die Feuerwehr wegen zu kurzer Leitern und Wassernot tatenlos zusehen muss, hilft er, der gute Mensch, kurzerhand auch beim Löschen. Er stellt sich in den Palast-Innenhof und tut das, was kleine Jungen hinterm Haus machen, wenn sie viel Limonade getrunken haben. Gulliver war auch hier erfolgreich, hatte aber in der Eile nicht die sittenstrenge Kaiserin auf dem Schirm. Kurz darauf muss er Liliput bei Nacht und Nebel verlassen.
Kinder mit zehn Jahren werden nicht alle politisch-gesellschaftlichen Anspielungen verstehen: “Beamtenanwärter müssen lernen, um den heißen Brei herumzugehen”. Das sollte aber kein Problem sein, leicht verständliche Szenen mit Lacheffekt gibt es genügend: “Als die feindlichen Matrosen den riesigen Gulliver zu Gesicht bekamen, sprangen 30.000 davon vor Schreck ins Wasser.” Dieser Klassiker zählt zu den Büchern, die man einfach gelesen haben muss. Über menschliche Schwäche und Dummheit zu lachen, gefiel den Menschen schon immer.
Lesealter: 8 – 10 Jahre
Daumen: 5