Folgendes Interview erscheint in Kürze als Antolin-Spezial auf www.antolin.de
AH (Albert Hoffmann): Herr Kruse, Sie sind als Schriftsteller ein bei Alt und Jung sehr bekannt und haben bereits viele Preise erhalten, u. A. das Bundesverdienstkreuz. Sind Sie zufrieden?
MK (Max Kruse): Herr Hoffmann, ich bin gar kein so bekannter Schriftsteller. Darf ich Ihnen eine kleine Anekdote erzählen?
AH: Ja
MK: Ich war mal bei einem bekannten Talkmaster zu Gast. Der stellte seine Gäste dem Publikum vor und fragte: „Wer kennt Max Kruse?“ Etwa 10% der Leute haben die Hand hochgehalten. Dann fragte er: „Wer kennt Käthe Kruse? (= Mutter von Max Kruse/ berühmte Puppenkünstlerin) Hierauf meldeten sich ca. 50 % aller Teilnehmer. Schließlich fragte er: „Und wer kennt das Urmel?“ Da schossen 90% aller Hände hoch. Das ist meine Situation! Aber vielleicht ist das die komfortabelste, die es gibt.
AH: Zum Thema „Zufriedenheit“
MK: Man freut sich, wenn man einen Preis kriegt. Aber Sie wissen, wie es mit dem flüchtigen Glück ist. Es geht sehr schnell vorbei. Am Ende bedeutet das eigentlich nicht so viel. Zufrieden bin ich eventuell, wenn mir etwas gelingt. Im Grunde aber bin ich nie zufrieden, das will ich auch nicht sein. Endgültige Zufriedenheit, das wär ja Sattheit. Das wäre ja so viel wie „aufgeben“. Das kommt nicht in Frage!
AH: Herr Kruse, Sie stammen ja aus einer Familie, die sich immer schon etwas vom Normalbürger abhob. Ihr Vater war ein großer Künstler. Ihre Mutter, die Schöpferin der Käthe-Kruse-Puppen, ist jedem im Land bekannt. Waren solch große Eltern-Gestalten für Sie, der Sie sich doch schon sehr früh für das Bücherschreiben entschieden hatten, eher hinderlich oder förderlich?
MK: Eher förderlich. Mit meinem Vater hatte ich nahezu gar keinen Kontakt. Mein Vater war 68, als ich geboren wurde. Ich sah ihn mehr oder weniger als meinen Großvater an. Außerdem war er nie zu Hause. Zu meiner Mutter hatte ich einen sehr innigen Kontakt. Ich war das letzte Kind. Der Altersunterschied war ja auch relativ groß. Ich kann mich an überhaupt keine Situation erinnern, wo mir die Übergestalt meiner Mutter in irgendeiner Form eine Belastung gewesen wäre. Ich hatte auch keine pubertären Schwierigkeiten oder irgendetwas in der Art. Ich habe sie sehr geliebt, insbesondere in der Zeit, als ich mich im Ausland aufhielt. Ich hatte fürchterliches Heimweh.
Allerdings habe ich mich auch immer gegen zu viel Liebe gewehrt. Es gab nie ein Problem, auch nicht bei der Abnabelung vom Elternhaus. Als alter Mann muss ich sagen, dass ich meine Mutter wahnsinnig bewundere. Sie hat Enormes auf sich genommen, und vieles nützte mir sehr.
Meine Mutter hatte einen unglaublich interessanten, großartigen Bekanntenkreis. Als ganz kleiner Junge habe ich schon mit Gerhard Hauptmann – auf der Insel Hiddensee war er unser Nachbar – ein paar Worte gewechselt. Ich durfte viele große und mittelgroße Schriftsteller (die oft viel interessanter sind als die großen!) schon ganz früh kennenlernen. Ein großer Schweizer Schriftsteller, Jakob Schaffner, der heutzutage völlig in Vergessenheit geraten ist, hatte großen Einfluss auf mich. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich nach einer Jugend, in der ich überhaupt nicht auf der Schule war, mit 19 oder 20 den Entschluss gefasst habe, das Abitur zu machen. Er hat gesagt: „Du musst das machen!“
Allerdings half da auch ein Mädchen, die Großnichte von Friedrich Nietzsche, in Weimar etwas mit. Nach einem Konzert saßen wir bei wunderbarem Mondschein auf einer Parkbank und küssten uns. Dann bin ich nach Hause zu meiner Mutter und habe gesagt: „Ich will nach Weimar, um das Abitur zu machen.“ Sie meinte hellsichtig: „Du bist verrückt! Da steckt doch ein Frauenzimmer dahinter!“ So ungefähr war das.
AH: Ihre Mutter hatte sicherlich viel zu tun. Da war die gut gehende Firma ….
MK: … die lief nicht immer so gut. 1929, während der Weltwirtschaftskrise, wäre es uns zum Beispiel sehr schlecht ergangen, wenn wir nicht ausländische Kunden, z. B. in der Schweiz gehabt hätten.
AH: … und dann eröffneten Sie ihr noch, Schriftsteller werden zu wollen.
MK: Aber das kam dem Herzenswunsch meiner Mutter entgegen. Sie war ja Schauspielerin gewesen und hatte eine starke Affiniät zur Literatur. Am liebsten hätte sie mich wohl als Nobelpreisträger gesehen. Den Wunsch konnte ich ihr natürlich nicht erfüllen (lacht). Schade, dass sie den Erfolg des „Urmel“ nicht mehr erlebt hat. Den des „Löwen“ schon. Es ist mir übrigens eine Genugtuung, dass das „Der Löwe ist los“ (1947 geschrieben, 1952 erschienen), heute immer noch aufgelegt wird.
AH: Fast schon ein Wunder, wenn man weiß, dass viele Verlage ihre Bücher oftmals bereits nach zwei Jahren von Markt nehmen.
MK: Manchmal schon nach drei Monaten. Nach sechs Monaten, sagt man, ist das Buch tot ….
AH: Das macht einen traurig, nicht wahr.
MK: Vor einigen Tagen habe ich von einer Dame einen Brief bekommen, in dem sie mir schreibt, dass eines meiner Bücher ihr Leben maßgeblich verändert hat.
AH: Ihre Geschichten sind vor allem in Fantasiewelten angesiedelt, nicht so sehr in der Realität. Ihre Figuren tragen lustige Namen und verbreiten gute Laune. Sehen Sie sich selbst als Spezialist für Humor und Witz?
MK: Eigentlich bin ich ein eher schwermütiger Mensch. Denken Sie an die großen Clowns, bei denen ist es genauso.
AH: Kaum zu glauben.
MK: Einige meiner Figuren agieren mit Sprachfehlern. Als ich das geschrieben hatte, bekam ich doch meine Zweifel und dachte: Das kannst du nicht machen. Ich ging zu meinem Verleger und sagte: „Wenn Sie das nicht wollen, nehme ich es raus.“ Da riss er die Hände hoch und rief: „Um Gottes Willen, das bleibt drin!“ Ich war sehr, sehr unsicher. Und dabei war und ist das der Clou!
AH: Ihr großer Durchbruch kam mit den Urmel-Büchern. Da kommen Versprecher vor in einer solchen Häufigkeit vor, dass man denkt: Der Witz kann doch gar nicht mehr wirken!
MK: (schmunzelt) Das hat mir noch nie jemand vorgeworfen. Aber sicher, Sie haben schon recht …
AH: Was mir noch aufgefallen ist: Die Namen sind in ihren Büchern manchmal ganz schön kompliziert. Aber das scheint die Kinder nicht zu stören …
MK: Ich kriege Briefe von Kindern, die mir Folgendes schreiben: „Lieber Herr Kruse, Sie sind ganz schön raffiniert; denn Sie zwingen uns, ganz genau hinzugucken!“ (lacht)
AH: Eine Anekdote wird immer wieder erzählt: die Sache mit der Tiefkühltruhe und der Urmel-Figur. Ich gehe davon aus, dass sie stimmt.
MK: Ja, die ist wahr. Ich fuhr eines Tages nach Hause und überlegte, was ich für meinen Sohn kochen könnte. Er aß gerne tiefgefrorene Forellen. Da kam mir der Gedanke, wie es denn wäre, wenn ein Tier aus der Eiszeit in unserer Zeit wieder aufgetaut werden würde und wieder lebendig wäre.
AH: Warum gefällt das Urmel den Kindern so gut?
MK: Es geht um eine Familie – was, glaube ich, der Hauptgrund ist; um eine in sich geschlossene, kleine Gemeinschaft mit kleinen Zankereien und Neckereien in einer exotischen Umgebung. Urmel ist im Tierreich angesiedelt, und die Tiere sind immer noch sehr beliebt bei den Kindern. Das zusammen macht den Erfolg aus. Später trug wahrscheinlich auch der Umweltgedanke einiges dazu bei.
AH: Ihnen ist etwas gelungen, von dem andere Schriftsteller nur träumen können: Ihre Geschichten wurden bereits frühzeitig in andere Medien übertragen: in das Theaterspiel (Augsburger Puppenkiste) und ins Fernsehen; ins Kino und in das große Theater in Form von Musicals.
MK: Ja, viele glückliche Zufälle reihten sich da aneinander. Ich hatte wahnsinnig viel Glück in meinem Leben. Mit meinen Eltern fing das an, mit den Übertragungen meiner Bücher in andere Medien ging es weiter. Wenn ich nicht einen Verleger gehabt hätte, der sich ganz mächtig dafür eingesetzte, dass „Der Löwe ist los“ von der Augsburger Puppenkiste ausgewählt wurde!!! Dass diese Geschichte dann zufällig auch als erster Farbfilm der Augsburger Puppenkiste im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, bedeutete wiederum Glück für mich. Ohne diesen glücklichen Umstand wäre der „Löwe“ wahrscheinlich heute schon längst tot. Und wer weiß, ob das „Urmel“ noch leben würde, wenn es nicht ebenfalls von der Augsburger Puppenkiste verfilmt worden wäre.
AH: Was mit Ihren Büchern geschehen ist, klingt heutzutage recht modern. Die elektronischen Medien drängen sich in diesen Zeiten in die Bücherwelt, viele Bücher erscheinen in Print- und Digitalversion, manche nur mehr als ebook. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung, diese Sprünge von einem Medium ins andere?
MK: Das ist alles sehr verwirrend. Aber es ist natürlich nicht aufzuhalten. Nur dürfen Sie mich das eigentlich nicht fragen… Ich bin da sehr weit weg … in meinem Alter.
AH: Gibt es bei Ihnen so etwas wie eine undefinierbare Angst, wenn Sie an die zukünftige Welt der Bücher denken?
MK: Ich würde heute sehr ungern als Schriftsteller anfangen wollen. Das stelle ich mir sehr schwierig vor. Als ich begann, war das Buch für Kinder mehr oder weniger das einzige Medium. Es gab noch nicht einmal Fernsehen.
AH: Sie haben vielerlei Bücher in Ihrem Leben geschrieben: Gedichte, Jugendbücher, Bücher mit philosophischem sowie kritisch-religiösen Inhalts. Ein Buch möchte ich unbedingt ansprechen: „Das silberne Einhorn“, 2011 im Thiele-Verlag erschienen. Die feinen, leisen Töne herrschen hier vor. Der Weisheit eröffnen Sie in diesem Buch eine Bahn.
Bitte, Her Kruse, einen Satz zu diesem Buch, … weil es mir so am Herzen liegt, weil ich es so gut finde.
MK: Es ist ein sehr zärtliches Buch.
AH: Ich glaube, das Buch hat ein bisschen mit Ihrem Alter zu tun. Im Alter von 20 Jahren hätten Sie es vermutlich nicht in dieser Form geschrieben.
MK: Nein, ganz sicher nicht. Aber ich wundere mich oft, wie viele junge begabte Menschen schon eine enorme Reife aufweisen. Ich will jetzt nur mal Thomas Manns „Buddenbrooks“ erwähnen, die er mit 28 geschrieben hat. Oder Mozart mit seinen ganz großen Werken. Er starb bekanntlich mit 35 Jahren.
Auch bei mir gibt es Texte, die nach langer Zeit aus der Vergessenheit auftauchen, z. B. irgendwelche Blätter von mir, Jahrzehnte alt: Ich lese rein und denke mir: Hm, das ist gut, sehr gut! (lacht) Ich weiß also gar nicht, ob das (=das Erkennen von Weisheit) mit dem Alter zu tun hat…
AH: Dennoch glaube ich, dass ein junger Mann solche Weisheits-Aussagen im Allgemeinen nicht machen wird. Man braucht hierzu Lebenserfahrung, die „Story“ an sich erscheint da nicht so wichtig.
MK: Tatsächlich habe ich dieses Buch vor 15 oder 20 Jahren angefangen. Dann wusste ich nicht mehr weiter. Vor zwei oder drei Jahren fiel mir der Text wieder in die Hände. Und plötzlich war alles klar. Ich griff zum Papier und schrieb weiter; fand glücklicherweise auch einen Verlag, der es veröffentlichte.
AH: In „Das silberne Einhorn“ kommen Sätze vor, wie: „Weißt du nicht, dass man die größten Abenteuer in seinem Herzen erlebt und sonst nirgends?“ Natürlich schweifen hier die Gedanken des Lesers sogleich zu Antoine de Saint-Exupérys „Kleinen Prinzen“. Ist das beabsichtigt?
MK: Das ist keine Absicht, aber wir leben natürlich alle im Austausch und bauen aufeinander auf, sonst würden wir ja uns nicht weiter entwickeln. Ich bin da auch gar nicht so empfindlich. Ich weiß nicht, ob man mir deswegen einen Vorwurf machen kann. Eine bewusste Nachfolge ist das jedenfalls nicht. Es handelt sich ja auch um eine ganz andere Geschichte.
AH: Mit jetzt 91 Jahren schreiben Sie immer noch Bücher für die Jugend. Und das Verwunderliche daran: Sie werden von den Kindern und jungen Leuten immer noch angenommen.
MK: (lacht) Bald wird es eine neue Urmel-Geschichte geben. Und der Verleger sagt: „Das wird das schönste Urmel-Buch aller Zeiten!“
AH: Hierfür wünsche ich Ihnen viel Erfolg – und freue mich darauf! Herr Kruse, ich danke Ihnen für das Gespräch!
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