Antolin-Spezial, Juni 2013, Albert Hoffmann
Bücher werden ihrer Inhalte wegen geliebt. Ja natürlich. Doch dazu bräuchte es des physischen Buches nicht, dies übernimmt heutzutage in digitaler Version mindestens ebenso gut jedes noch so kleine Gaget. Zum Glück kann das Medium Buch auch auf sinnliche Vorzüge verweisen, die bleiben werden. Astrid Lindgren schreibt in „Das entschwundene Land“:
„Einen Duft aber gibt es, der lieblicher ist als der von Waldbeeren und frisch gebackenem Brot, möchtest du den mal riechen, Albin? Mach es wie ich, nimm dein neues Märchenbuch, schlage es auf und bohre die Nase zwischen die Seiten, rieche daran, ja rieche, sage ich… denn in dem Duft der Druckerschwärze wohnt das grenzenloseste aller Abenteuer. Am Geruch spürst du, wie herrlich es wird, dieses Buch zu lesen.“
Als ich wieder einmal zu Besuch bei der Schriftstellerin Sigrid Heuck war, kam per Post ein von ihr gerade erschienenes Buch an. Als die Verpackung aufgerissen war, setzte die sonst so vernünftige, ruhig-bedächtige Dame zu einem wilden Tanz rund um das neue Buch an, der mich staunen ließ: Sie schwang es nach allen Seiten, sie hüpfte herum, sie küsste es, sie roch daran, sie fuhr immer wieder mit der Hand über Cover und die Buchseiten, sie drückte es an ihr Herz.
Bei solchen Augenblicken wird einem schnell bewusst, dass Bücher eine perfekte Erfindung sind. Sie weisen eine Identität und eine Kraft auf, die Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur vielleicht sogar zu verändern vermag. Selbstverständlich gilt dem Inhalt der Primat, aber die äußere Erscheinung eines Buches ist ebenfalls von immenser Bedeutung. Die Modedesignerin Gabriele Strehle sagt: „Seit ich Modedesignerin bin, wurde immer wieder das optische Zeitalter beschworen. Ich bin davon überzeugt, das wir längst das haptische Zeitalter einläuten sollten. (…) Oft ist die Rede von der Liebe auf den ersten Blick, ob es um Menschen oder um Dinge geht. Ich glaube vielmehr an die Liebe auf die erste Berührung.“ Warum sollte nicht die Liebe zum Buch über die Berührung gehen? Einer solch geballten sinnlichen Wucht gegenüber erscheinen digitale Fragensätze eher von flüchtiger Natur.
Bei diesem Antolin-Spezial wird das Medium Buch mit Blick auf den Menschen mit all seinen Sinnen betrachtet. Die Inhaltsschwere niedergeschriebener Gedanken wollen wir diesmal ein wenig an den Rand drängen, gilt es doch im Zeitalter der elektronischen Lesegeräte die Buchgestaltung hervorzuheben, um dadurch auch den ästhetischen Wert eines Buches zu betonen, das vielleicht letzte sichere Terrain des Mediums Buch. Wir alle wissen, Bücher sind etwas Besonderes: sie bereiten Freude und wecken Inspirationen. Vielleicht noch wichtiger: Sie besitzen eine nahezu magische Anziehungskraft, die sich aus den Tiefen des Emotionalen nährt. Die sinnliche Kontaktnahme kann sich auf mehreren Ebenen vollziehen: über die Hand, den Geruch, möglicherweise auch über das Ohr; vor allem aber über das Auge.
Ist dieser Sinnes-Check erfolgreich verlaufen, tut sich der Verstand mit der inhaltlichen Aufnahme leichter. Die Hürden, sich ein Buch anzueignen werden kleiner. Der Autor Frank Maria Reifenberg, der sich viel mit der Leseunlust der Jungen beschäftigt, betrachtet gewisse Gestaltungselemente eines Buches als „Rutschbahn ins Buch“. Dazu gehört neben dem Umfang eines Buches (für leseunlustige Jungen darf ein Buch nie dick sein) ein gut erfassbares Schriftbild, die Größe der Buchstaben sowie die Auflockerung durch Illustrationen und überschaubare Kapitellängen.
Die Perfektionierung dieser „Rutschbahn“ stellt nicht zuletzt ein Mittel der Verkaufsförderung dar. Der visuellen Erscheinung (Cover/Illustrierung/Qualität des Papiers/Schriftgröße/Typologie) eines Buches kommt die größte Bedeutung zu.
Ist letztlich die Gestaltung eines Buches die Ursache für den Verkaufserfolg? Das ist leider nicht messbar. Dieser Aspekt liegt allerdings auch nicht unbedingt im Fokus der Buchproduzenten. Immer schon galt den meisten Buchmachern als Leitgedanke die Harmonie zwischen Form und Inhalt. Von entscheidender Bedeutung war für sie eigentlich immer die Passung eines guten Textes in eine entsprechend perfekte Gestaltung. Das mag nicht ganz einfach sein, aber es gelingt immer wieder neu. Ein Buch kann – bei optimaler Harmonie zwischen Inhalt und Form – ein Kunstwerk darstellen, durchaus vergleichbar mit einem Gemälde, einer Komposition, einem Theaterstück.
Allerdings – wie viele Bücher mit exzellentem Inhalt gibt es, die sich nur schwer verkaufen lassen! Möglicherweise ist es die Aufmachung, die minderwertige Gestaltung, die den Inhalt nicht zum Leuchten bringt.
Freilich sollen im Gegensatz dazu nicht schwache Inhalte durch perfekte Buchgestaltung in den Himmel gehoben werden. Auch das wäre falsch.
Der (einfache) Leser sollte bei aller Begeisterung für künstlerische Gestaltung und geistige Höhenflüge auch nicht vergessen werden. Wer sich die Lesezahlen in Antolin genau ansieht, erkennt sehr schnell die Fälle, bei denen dieser Super-Gau eingetreten ist: eine Sehr-Gut-Note von Fachleuten für Inhalt und Gestaltung, doch kein (kaum ein) Schüler liest das Buch. (Den umgekehrten Fall gibt es natürlich auch, gar nicht so selten: Ein eher mäßig gestaltetes Buch (oder Buchreihe) mit bestenfalls mittelmäßigem Inhalt trifft den Zeitgeist – und die Verlaufszahlen schnellen in die Höhe. Kann auch in Antolin sehr schön abgelesen werden.)
Generell aber gilt, und da möchten wir uns der Ansicht der „Stiftung Buchkunst“ gerne anschließen: Ein gut gemachtes Buch stellt einen Mehrwert dar, den der Leser/ Käufer in der Regel erkennt und schätzt, nicht zuletzt über seine Sinne. Ich wundere mich, wie man in den USA, auch in gut ausgestatteten Schülerbüchereien von noblen Privatschulen, zu glauben scheint, auch mit minderwertig gemachten Kinder- und Jugendbücher könne man Lesefreude schaffen. Beispiel: Die berühmte Buchreihe „Magic Tree House“ (Mary Pope Osborne) kenne ich eigentlich nur als Billigausgabe auf schlechtem Papier. Wie gut, dass der Verlag Loewe, der in Deutschland „Das magische Baumhaus“ vertreibt, diese Bücher in einer sehr sinnlich-gefälligen Form herausgibt! Gerade die schönen Bücher sind es, die lang anhaltende Freude und innere Erfüllung garantieren. Und dieses Glück lässt sich wiederholen, so oft man eines dieser Bücher aus dem Regal nimmt und darin schmökert. Bei manchen Verlagen hat man den Eindruck, sie haben sich der Schönheit und Buchkunst regelrecht verschrieben. Kaum ein Buch aus deren Häusern, das nicht höchsten Ansprüchen genügen würde. Deren Namen müssen hier nicht genannt werden. Man kann als Aufgabe formulieren: Wer sucht, der findet! (Gar nicht so schwer)
In drei Kapiteln sollen Bücher vorgestellt werden, bei denen die optimale Passung zwischen Inhalt und Gestaltung/ Form gelungen erscheint:
A)
Bücher, die mit Preisen der Institution „Stiftung Buchkunst“ versehen wurden: von dem Jahr 2000 bis 2013.
Um die preiswürdigen Bücher eines Jahres herauszufischen, wird hier ein dreiteiliges Bewertungsverfahren in Szene gesetzt.
Die erste Jury besteht aus sieben kompetenten, erfahrenen Personen: Buch-Herstellern, Buch-Gestaltern und einem Buch-Binder. Sie haben drei Tage Zeit, um sich alle eingesandten Bücher anzusehen und sie nach den Kategorien Konzept, gestalterische Umsetzung und Verarbeitung zu beurteilen.
Anschließend prüft eine zweite Jury alle diese Bücher. Auch sie besteht aus sieben Personen. Nun bekommen die einzelnen Bücher „Noten“. Solche mit schlechten Bewertungen fallen aus der Bewertungsprozedur raus. Mit den verbliebenen geht es dann in die letzte große Diskussion. Hier kristallisieren sich die Favoriten heraus. Am Ende des 4. Tages stehen dann die 5 x 5 schönsten Bücher deutscher Sprache fest.
Aus der Begründung zu „Mein kleiner Wald“ von Katrin Wiehle (Beltz & Gelberg Verlag) der „Stiftung Buchkunst“ für die Auswahl zum „schönsten Buch“ in der Kategorie Kinder- und Jugendbücher:
- Es lädt Kinder ab drei Jahren zu einem Besuch im Wald ein.
- Goldige Hauptfiguren: freundlicher Fuchs, aufmerksamer Dachs, neugieriges Eichhörnchen
- Das Erleben im Wald wird mit sparsamen Worten beschrieben.
- Sehr wichtig: Hier wird die Idee der Nachhaltigkeit durch die Gestaltung betont.
- Die gut lesbare Schrift steht zurückhaltend neben Illustrationen.
- Die Illustrationen bestechen durch ihre natürlich und dezente Farbigkeit.
- Abstrakt wirkende Illustrationen stehen detailreich gestalteten Elementen gegenüber.
- Farben und Formen können miteinander verglichen werden.
- Gedruckt auf Ökokarton mit Naturfarben
- Wohltuende Absetzung von herkömmlichen, aufwändigen, glitzernden Produkten
- Zeichensetzung durch (bescheidene) Materialität: Karton ist nicht cellophaniert, er behält seine natürlich haptische Oberfläche.
- Spannung durch Kontraste: groß/klein, Fläche/Struktur, Pflanze/Tier
- Entscheidend: Der Gegensatz des visuellen Mattigkeitsduktus zu dem Knalligen, Schrillen, Glänzenden, Reißerischen unserer täglichen Umwelt
- Verbindung von Werten und ihren Repräsentationen: ein Lehrstück
B)
Bücher, ausgewählt nach ganz persönlichem Empfinden einer Einzelperson, in diesem Fall: Albert Hoffmann, Herausgeber von Antolin
Auch das muss erlaubt sein, trifft doch letztlich der Kunde im Buchladen die endgültige Entscheidung über Wohl und Wehe eines Buches, über Hype und Flop. Und dieser „Endverbraucher“, der Hingucker, der Interessierte, der Käufer ist in der Regel kein Fachmann; er entscheidet – das wollen wir mal so unterstellen – aus dem Bauch heraus. Und so ist er letztlich der Maßstab für die Wirksamkeit von Konzept und Schlüssigkeit, von Gestaltung und Inhalt. Unabhängig von Schönheits-Experten und Kompetenzteams bekommt da plötzlich des „Volkes Stimme“ eine gewaltige Aussagekraft. Was natürlich nichts über die innere Qualität eines Buches aussagt. Aber Beachtung finden sollte sie – im Konzert mit den anderen – auf jeden Fall.
C)
Künstlerbücher
Mit der Schönheit von Büchern haben sich die Menschen befasst, seit es Bücher gibt. Denken wir nur an das hingebungsvolle Malen der Ornamentik rund um eine Initiale bei einem Buch, das in mittelalterlichen Klöstern von Hand geschrieben wurde.
Auch Johannes Gutenberg befasste sich ganz bewusst auch mit der illustrativen Buchkunst.
Doch Künstler wären wohl keine kreativen Gestalter, wenn sie bei dem stehen blieben, was das Mittelalter ihnen vorgab. Wenn ein heutiger surrealistischer Künstler ein „Buch-Objekt“ startet, darf man Besonderes erwarten, etwas, das in der Lage ist, unsere Vorstellungs-Muster auf den Kopf zu stellen. Solche Künstler gehen über das hinaus, was für uns „Bücher“ sind. Der äußere Anschein eines Buches taucht zwar hierbei noch auf, im ursprünglichen Sinn gelesen werden kann so ein „Buch“ aber nicht mehr. Den Künstlern viel wichtiger ist es, dass alle Sinne – neben der gedanklichen Auseinandersetzung – angesprochen werden. Als Kunstwerke sind sie dem Bereich „Skulptur“ zuzuordnen. Diese Kunstrichtung ist noch relativ neu, sie entstand im 20 Jahrhundert.