Das Zombiemädchen, das die Herzen aller im Sturm erobert

Mortina – Das große Verschwinden
von Barbara Cantini
dtv-junior
ISBN: 9783423762731

Wer glaubt, Kinderbücher schwebten unangreifbar auf einer ewig-gut-Wetterwolke selig dahin, liegt falsch. Kritik entzündet sich immer wieder aus pädagogischem Empfinden heraus. Was pädagogisch gut bzw. unmöglich ist, konnten auch hitzige Diskussionen über Jahrhunderte hinweg nicht wirklich klären. Objektiv feststellen kann man aber die Themen und Figuren, die in heutiger Zeit Akzeptanz erreicht haben. Dazu zählt alles rund um Zombies, die Untoten; die Wesen also, die sich immer noch unter den Lebenden herumtreiben, obwohl ihre Erdenzeit längst abgelaufen ist. Nicht nur akzeptiert, geradezu willkommen geheißen sind sie im Themenspektrum der Kinderbücher. Gruseleffekte werden hier als Kaufanreiz und Lesemotivation gesehen.

Ein neue Reihe dieser Kategorie ist “Mortina“. Hier steht ein Mädchen im Mittelpunkt: etwas schüchtern, doch niedlich und reizend, dem die Herzen aller LeserInnen schon nach der ersten Seite zufliegen. Auch wenn dieses Mädchen einen beunruhigenden Namen trägt: nicht Martina, sondern Mortina, mit “o” also, das lateinische Wort “mors” = Tod enthaltend.

Mortina, das Zombiemädchen mit ihren 6 oder 7 Jahren, weiß von ihrer Tante Dipartita um ihr Problem: eine Freundschaft zwischen Zombies und normalen Menschen geht nicht. Punkt. Für sie wird der Gartenzaun zur Festungsmauer, die sie strikt von der Außenwelt trennen soll. Dabei sieht das Nachbardorf so verlockend und einladend herüber. Eigentlich wäre alles da, was Mortina so zum Leben braucht: reichlich Essen, eine stattliche Villa mit Turm, eine sich sorgende Tante, ein Albino-Hund zum Spielen.

Doch ist das wirklich alles? Nein!

Mortina spürt in sich den drängenden Wunsch nach Lachen und Spielen in Gemeinschaft. Es ist die Einsamkeit, das Alleinsein, der Mangel an Kommunikation, was Mortina dazu bringt, (moralische) Grenzen und (feste) Mauern zu überschreiten. Not macht erfinderisch, das gilt auch für Zombies. Und siehe da, die Kinder der anderen Seite sind humaner und toleranter als erwartet. Eine offene Gesellschaft weiß auch Zombies zu integrieren. Aus der irrationalen Angst voreinander wird ein produktives, entspanntes Miteinander, Halloween sei Dank! Soweit der erste Band: “Ein Mädchen voller Überraschungen”.

Im soeben erschienenen zweiten Band “Das große Verschwinden” sind die Dorfkinder fast schon Stammgäste in der Villa Decadente. So eine alte, morbide Villa, die nicht zuletzt auch wegen ihrer seltsamer Bewohner von einer magisch-geheimnisvollen Aura umgeben ist, besitzt per se Abenteuer- und Gruselpotenzial. Normales Leben vermischt sich hier zwangsläufig mit fantastischen Vorgängen, was aber bei Kindern eher ein Plus gesehen wird. Alltag wird daheim zur Genüge geboten, die Villa Decadente, Tante Dipartita und Mortina, das Zombie-Kind, stehen für Abgedrehtheit, Zauberwelt und Sonder-Effekte.   

Eigentlich war Tante Dipartita nur an biologischer Forschung interessiert, als sie anfing, liebevoll und systematisch zum Efeu im Haus zu sprechen. Nie hätte sie geglaubt, dass sie diese Pflanze dadurch zu gigantischem Wachstum animieren würde. Und es blieb nicht dabei, der Efeu griff auf Menschen über und verschlang sie geradezu. Wer von den Kindern bekommt im Dorf schon so etwas geboten?

Den Hauptanteil an der Ästhetik und der moralischen Kraft von Mortinas Geschichte tragen die genialen Illustrationen von Barbara Cantini. In diesen grazilen Meisterwerken liegt viel Wärme, stille Heiterkeit und Besänftigung inmitten all des Trubels. Die dem Text gleichgestellte Bildkunst nimmt durch ihre filigran-detaillierte, versteckt-witzige Art der Darstellung der kindlichen Angst die Spitze und vermittelt den jungen Leser von Anfang in die Gewissheit, dass alles so schlimm nicht werden wird.

Barbara Cantini ist mit diesen zwei Büchlein ein faszinierendes Werk gelungen, das sich aus urkomischen Situationen, die aus zwei unterschiedlichen Lebensentwürfen gespeist sind, aus dem potenziell unberechenbaren Miteinander von Zombies und Menschen sowie aus den gewagt-kreativen, witzig-erfrischenden Lösungsversuchen zusammensetzt.

Wünschen wir der Künstlerin die Kraft, die Fantasie und die Ausdauer, die sie als Autorin und Illustratorin braucht, um noch viele Bände dieser Art den Grundschülern dieser Welt zu schenken. Sie stellen die beste Werbung für das Lesen dar. Ob Leseprofi oder Video-Fan – Mortina schafft es, alle zu begeistern.

Auch in Afrika gibt es für einen Detektiv immer viel zu tun

Thabo und Emma: Ein böser Verdacht
von Kirsten Boie
Verlag Oetinger
ISBN: 9783789110689

Kirsten Boie ist eine der vielseitigsten Schriftstellerinnen in Deutschland. Mit der Buchreihe “Thabo und Emma” betritt sie Neuland. Nicht nur, dass sie Geschichten aus dem realen Alltag der Protagonisten erzählt, sondern ein Land und eine Kultur vorstellt, mit der wohl nicht sehr viele in Europa vertraut sein dürften: Swasiland im Süden Afrikas.

Kirsten Boie ist Expertin. Zig-Male hat sie Swasiland besucht und Anteil am Schicksal der Menschen genommen. Es ist der zweitkleinste Staat Afrikas, doch bezüglich der Aidsrate ist er – leider – spitzenmäßig. Sie setzt sich seit Jahren für eine Aids-Waisen-Hilfsorganisation ein. Daraus ist ihr Buch “Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen” für Jugendliche entstanden.

Die “Thabo und Emma”-Geschichten sind für Kinder von 7 bis 10 gedacht und erzählen von erfundenen Kriminalfällen rund um die Lion Lodge am Rande eines Safari-Nationalparks. Thabo, ein Waisenjunge, der bei seinem Onkel lebt, weiß genau, was er einmal werden will: Detektiv. Ihm zur Seite steht Emma, ein englisches Mädchen, deren Mutter die Lion Lodge betreibt. Arbeit gibt es für die beiden genug: Da ist Mister Brown, ein weißer Tourist. Er ist außer sich, da seine Brieftasche, die der Schuhputzer zufällig gefunden und ihm übergeben hat, leer ist. Inspektor Gwebu lässt sich von Mister Brown überrumpeln und sperrt den armen Paki ein. Zum Glück aber werden Thabo und Ema aktiv und stellen alles am Ende richtig.

Man muss den Mut und das Engagement von Kirsten Boie bewundern, authentisch und kindgemäß afrikanische Lebenswelt spannend, lustig, angenehm und sehr menschlich darzustellen. Warum nicht auch unter Zuhilfenahme der Krimi-Schablone?

Was dabei herauskommt, ist höchst bemerkenswert: Geschichten mit Tiefgang, wunderbare Erzählungen aus einem Land, das noch voller Probleme steckt, aber Augen und Geist der jungen Leser aufschließt für eine fremde, exotische Welt. Nicht mit dem Zeigefinger, nicht mit Gejammer, sondern – in der Form, wie Kinder von Natur aus Neues für sich entdecken – einfach mit munterem Drauflosgehen und neugierigem Anpacken. Und plötzlich erscheint diese Welt aufregend interessant und voller Lern- und Entdeckungsmöglichkeiten.

Und nebenbei schildert Kirsten Boie unaufgeregt das normale tägliche Miteinander von Weißen und Farbigen. Wie es in manchen Gebieten Afrikas schon seit Jahrhunderten so abläuft.

Fast perfekte Morde

Two can keep a secret
von Karen M. McManus
Verlag: cbj
ISBN: 9783570165386

Wirft man eine Blick auf die in den letzten Jahren erschienen Jugendbücher, so müssen Kleinstädte die perfekte Szenerie für Thriller sein. Auch Karen M. McManus’ “Two can keep a secret” ist hier angesiedelt, ein von der ersten bis zur letzten Seite mitreißender Pageturner.

Zum Glück für das nur scheinbar verträumte Städtchen Echo Ridge siedeln die

High-School-Schüler Ellery und Ezra hierher um. Vermutlich wäre ohne die beiden die Düsternis, die wegen zwei ungelöster Verbrechen (ein Mädchen verschwand, ein anderes wurde ermordet) bislang über dem Städtchen schwebte, nie aufgeklärt und der Täter, der inmitten der Gesellschaft in fast perfektem Umfeld lebte, nie enttarnt worden. 

Schon ihre erste Begegnung mit Echo Ridge kündigt Aufregendes an: ein High-School-Lehrer liegt tot auf der Fahrbahn. Jemand muss ihn angefahren, kurz darauf aber geflüchtet sein. Auch wenn Ellery die Atmosphäre von True-Crime als ihr Hobby angibt, wird sie schneller in den Strudel der mysteriösen Ereignisse gerissen, als ihr lieb sein kann.

Dass sie sich mit ihrem Mitschüler Malcom gut versteht, hilft ihr nur begrenzt, gilt doch dieser wegen seines in Verdacht stehenden Bruders Declan als wenig glaubwürdig. Eine öffentliche Ankündigung des nächsten Mordes lässt ihren Atem stocken: ihr Name tauchte auch auf der “Todesliste” auf.

Der Roman enthält all das, was man an Krimis schätzt: ein Seite um Seite stärker werdendes Hineingezogenwerden, die zunehmend gruseliger und irrsinniger werdende Story sowie die überraschend-explosive, durchaus logische Wende am Schluss. Ein Blick auf unseren realen Alltag – und man kann sich Derartiges nicht nur in einer Kleinstadt vorstellen.

Fazit: ein Krimi der exzellenten Art, dessen Spannungsmomente und psychologische Struktur perfekt gesetzt sind. Karen M. McManus’ erstes Buch “One of us is lying” wurde von Jugendbuch-Jury des Deutschen Jugendbuchpreises nominiert. Eine solche Auszeichnung könnte man sich für dieses Buch auch vorstellen.

Mein Papa, der Bandit. Und ich.

Banditen-Papa
Von David Walliams
Verlag: Rowohlt-Rotfuchs
ISBN: 978-3499218446

Eigentlich hätte alles so gut werden können. Frank und sein Vater Gilbert waren ein “Dreamteam”, die sich mochten und zusammen hielten wie Pech und Schwefel. Geld war in Fülle da, Gilbert heimste bei Stockcarrennen grandiose Preise ein, alles happy also. Doch dann hob der Schicksalsengel Gilbert aus seiner rollenden Kiste und wirbelte ihn herum: Unfall, Amputation eines Beines, seine Frau lief zum Banditenchef über, kein Job mehr, kaum Geld zum Überleben. Da gab es für den liebevoll-warmherzigen Gilbert mit Blick auf die Zukunft seines Sohnes nur eine Lösung: Fahrer im Dienste einer Bankräuber-Gang, bei Mr Big und seinen knalldoofen Kumpanen Finger und Däumling. Frank allerdings, ein heller Kopf, war jedoch anderer Ansicht: Sein Vater und Mr Big – das geht gar nicht!

David Walliams, der Autor, erzählt so slapstickhaft und turbulent, dass man beim Lesen nahezu aus Zeit und Raum driftet. Wer den schwarzen englischen Humor mit seinen irr-skurrilen Szenen liebt, immer wieder laut auflachen will, ein Faible für verrückte, total abgedrehte Szenen hat, sich aber auch an einfühlsamen Momenten erbauen kann, für den ist dieses Buch ein “Must-Read”. Er wird das 400 Seiten starke Buch, gut gefüttert mit den genialen Zeichnungen von Tony Ross sowie den Schrift-Kunststückchen (fett, kursiv, klein, groß, lautmalerische, comicartig) in Windeseile durchlesen und am Ende glücklich aus der Hand legen.    

Lediglich bei der Figur Judith, der Pastorin, kippt David Walliams’ sonst so angenehm-schräger Witz in abwertende Lächerlichkeit um. Schade.

Rapunzel als Architektin mit kreativ-magischen Fähigkeiten

Power to the Princess:
Märchenbuch für mutige Mädchen
von Vita Murrow
Verlag: Carlsen
ISBN: 978-3551519085

Zur Freude aller siegt bei “Rapunzel” ganz am Ende das Gute über das Böse.  Bis der Prinz auftaucht, vergeht jedoch viel Zeit. Zeit der Erniedrigung durch die Hexe, des Leidens und der Fremdbestimmung. Dann aber naht aus heiterem Himmel ein Prinz im heiratsfähigen Alter als Rettung  – ein Glücksfall ohnegleichen!

Der aufgeklärte Mensch im Jahr 2020, besser gesagt, die Schriftstellerin Vita Murrow fragt sich: “Muss das so sein? Ein Leben in Abhängigkeit von einem Zufall?” Wer so fragt, dem liegt eigentlich die Antwort schon auf der Zunge: “Um Himmels Willen: Nein!”

Cool geht anders: Hier bittet Rapunzel die Hexe darum, den Turm, in dem sie gefangen gehalten wird, umbauen zu dürfen. Zunächst plant sie einen Aufzug an der Seite, kurz darauf ein paar Gästezimmer in luftiger Höhe, dann ein Baumhaus, das per Hängebrücke erreichbar ist sowie ein Kuppeldach mit buntem Glasgefüge für den Turm.

Als schlussendlich sich ein Prinz zeigt, war dieser hingerissen vom Turm und seiner genialen Architektin.

Vita Murrow bläst den Staub von 15 bekannten Märchen mit weiblichen Protagonisten. Im Original müssen diese schicksalsergeben auf den Prinzen warten, bei dieser Autorin packen sie beherzt an, gehen ihren eigenen Weg – und gewinnen. Was sich daraus ergibt, das sind Geschichten mit Wow-Effekt: erfrischend, positiv, ermutigend. In die heutige Zeit passend: So müssen Bücher sein.