Ein Buch als stilles Denkmal an eine schlimme Zeit

“Drinnen – Draußen”
Autor/Illustrator: LeUyen Pham
Thienemann Verlag
ISBN: 9783522459716

Die Pandemie ist noch nicht vorüber, doch mit Büchern über Covid 19 werden wir bereits gut eingedeckt. Während die meisten den Leser auf vielen Seiten informativ und erklärend umgarnen, macht das Bilderbuch “Drinnen Draußen” genau das Gegenteil. Leise kommt es daher, mit vielen großflächigen Bildern und wenig Text, ohne das Wort Corona auch nur zu erwähnen.

Die amerikanische Autorin LeUyen Pham erklärt nicht, sie schildert. Das vergangene Jahr hat die Gesellschaft verändert. Keiner entkam ihr, auch nicht die Kinder. Das Leben verlagerte sich zunehmend von außen nach innen. Straßen und Plätze wurden leerer, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe reagierten die Menschen auf den Virus in ähnlicher Weise. Der Blick aus dem Fenster wurde zum Kommunikationsportal nach draußen. 

Die große Ausnahme bildeten die Menschen, die dringend gebraucht wurden: Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Feuerwehrleute und Lebensmittelhändler.  

Drinnen suchte man sich zu beschäftigen, so gut es eben ging. Draußen läuteten die Glocken nicht mehr, die Schaukeln hingen müde herum. Alle bemühten sich, irgendwie weiterzuleben – mit Lachen, Weinen, Sich-Gegenseitig-Helfen, Beten und Hoffen. Niemand konnte aber verhindern, dass wir uns fast unbemerkt veränderten. Alle! Alle, die wir drinnen waren, denn innen sind alle Menschen gleich. Und alle hegten die große Hoffnung und den dringenden Wunsch, dass sich endlich wieder der Frühling zeigen möge. Innen und außen, der Frühling des normalen Lebens.

LeUyen Pham erzählt nichts Neues; aber sie trifft die Lebensader in jedem von uns, von den Kleinen und Großen, den Geduldigen und Ungeduldigen. Allein dieses Verbalisieren wirkt bereits heilend. Die ruhigen Bilder, die auch heiteren Szenen Raum geben, bieten Haltepunkte des Erinnerns. Ein stilles Buch als Denkmal an eine schlimme Zeit. 

Der Schluss lenkt die Gedanken auf den kommenden Frühling, von alters her die Zeit des Neuanfangs und der Hoffnung. Eine Pandemie macht demütig, ein Leben so wie es vorher war, würde uns schon genügen. Mehr Sehnsucht muss nicht sein.

Lesealter: 5-7 Jahre 

Die Mordnacht von Penzberg kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner

“Dunkelnacht”
von Kirsten Boie (Autorin)
Oetinger Verlag
ISBN: 9783751200530

So kennt man Kirsten Boie, die Schriftstellerin von der Waterkant, noch nicht: als Chronistin der bedrückendsten Tage in der Geschichte des oberbayerischen Städtchens Penzberg. Ihr feines Gespür für Kinder und Jugendliche und ihr gesellschaftliches Engagement machte sie zur deutschen Astrid Lindgren, im Hinblick auf ihre Vielseitigkeit übertrifft sie jedoch das große Vorbild aus Schweden. 

Mutig holt sie ein Ereignis am Ende des 2. Weltkriegs ans Licht, das an Brutalität, Menschenverachtung und irrsinniger Befehlstreue seinesgleichen sucht. 

Am 27. April 1945 verkündete die “Freiheitsaktion Bayern” über den Reichssender das bevorstehende Kriegsende. Gleichzeitig bat man die Bürger, die letzten Nazis daran zu hindern, noch funktionierende Industrieanlagen zu zerstören. In Penzberg fanden sich solch gute Geister. Etwas zu früh, wie sich herausstellen sollte. 

Wilde Aktionen der Hitlertreuen, teils ferngesteuert, teils vor Ort, teils aus sinn- und herzlosem Pflichtgefühl, teils aus Unfähigkeit und mangelndem Mut ebneten den Weg in die Katastrophe. Nach der Erschießung einiger Männer von einer Wehrmachtseinheit rückte kurz darauf die Organisation Werwolf in Penzberg ein und übernahm. 16 Bürger, die auf der Liste standen, wurden aus den Betten geholt und kurzerhand an Balkonen und Bäumen in Penzbergs Mitte aufgehängt, Stunden bevor die Amerikaner einmarschierten. Hitler setzte seinem Leben zwei Tage später ein Ende, am 8. Mai 1945 war alles vorbei.

Als in Deutschland einige Monate später wieder die freiheitliche Grundordnung eingerichtet war, wurden die Penzberg-Mörder vor Gericht gestellt. Das Urteil: Freispruch. Die Angeklagten hatten ja “nur” Befehle ausgeführt. 

Kirsten Boie entschied sich für eine Novelle, eine kurze Prosa-Erzählung. Das gab ihr die Möglichkeit, fiktive Personen hinzu zu fügen. So erzählen Schorsch und Marie, ein junges Paar, mit großer Emotionalität den Alptraum dieser Nacht. Er geht unter die Haut geht; nicht als Entspannungslektüre für den Abend gedacht, wohl aber als Mahnung an eine dunkle Nacht.

Lesealter: 14 – 16 Jahre 

Ein Buch wie ein festlicher Weihnachtsabend

“Der Messias: Das Oratorium von Georg Friedrich Händel, Teil 1” 
von Rudolf Herfurtner (Autor),
Anna Severynovska (Illustrator)
Verlag: Annette Betz
ISBN: 9783219118797

Immer wieder erstaunt man aufs Neue darüber, was manche Verlage an Mut und Wagnis im Kinderbuchbereich aufbringen. Ein so inhaltlich und musikalisch gewaltiges, umfangreiches Musikstück wie das Oratorium von Händel in Bilderbuchform Grundschulkindern anzubieten, gleicht einem kühnen Abenteuerritt. Das kann nur gelingen, wenn die didaktische Aufbereitung für die kleinen Leser und Hörer überzeugend rüberkommt. “Hörer” deswegen, weil diesem Buch eine CD mit wichtigen Ausschnitten des Oratoriums beiliegt. 

Antons Großvater, der lebenslustige Mann, kommt ins Nachsinnen, als er mit seinem Enkel am Fenster steht und die herbstliche Stimmung der Natur betrachtet. Im abendlichen Wohnzimmer bei Kerzenschein kommt das Gespräch der beiden wieder auf das Vergehen und Werden der Natur. Der Großvater weiß von G.F. Händel und seinem Oratorium: Der erste Teil berichtet vom Traurigsein und Warten und Hoffen. Doch am Ende erzählt es von der wunderbaren Freude, wenn wieder das Licht in der Finsternis auftaucht und alle erlöst.

Natürlich gehen sie ein paar Tage später hin in die Martinskirche, zur Aufführung des 1. Teils des “Messias”.  Sie fahren nicht mit dem Auto, sie gehen. Durch Schnee und den nächtlich-dunklen Wald. Opa will es so, da kann er ihm noch etwas von dem großen Komponisten erzählen, der sich kränklich, erschöpft und lustlos fühlte, als er sich an dieses Oratorium machte. Doch eine Einladung aus Dublin gab ihm all seine Lebensfreude zurück.

Bei so einem vertrauten Gespräch kann es schon vorkommen, dass es ins Philosophische abschweift. Traurige Phasen erlebten die Menschen auch früher; gut, dass so Propheten wie Jesaja auftauchten und von der Herrlichkeit Gottes berichteten, die auf die Erde kommen soll. Als die beiden schließlich aus dem Wald treten, fällt ihr Blick auf die festlich beleuchtete Kirche. “Das Volk, das im Dunkeln wandelt, sieht ein großes Licht”, fällt Opa hierzu ein. 

Das Konzert in der Kirche ist Höhepunkt und Abschluss der Einführung zum “Messias” zugleich. Auf dem Schoß seines Großvaters fühlt sich Anton wie “eingehüllt in eine jubilierende Schar von Engeln”. 

Die Hinführung zu diesem Oratorium der Hoffnung gelingt Rudolf Herfurtner, dem Autoren, meisterlich. Die ausdrucksstarken Bilder von Anna Severynovska bestätigen das Gesagte unaufdringlich, sensibel. Sie sind Teil der Gesamt-Komposition aus Hörgenuss, liebevoller Erzählung und  großflächigen, stimmungsvollen Illustrationen. Ein Buch wie ein festlicher Weihnachtsabend. 

Ein leerer Eimer, mehr geht leider nicht

Eine Wiese für alle
von Hans-Christian Schmidt (Autor) und Andreas Német (Illustrator)
Verlag: Klett-Kinderbuch
ISBN: 9783954702428

Nicht immer erzählen Bilderbücher liebe, nette Geschichten. Das Buch “Eine Wiese für alle” fällt aus diesem Rahmen. Es beginnt mit: “Stell dir vor, du bist ein Schaf.” Neben diesem Satz steht das Schaf und schaut dir in die Augen; will sagen: ich bin du, du bist ich. Und somit ist der Leser mittendrin im Geschehen. Rundum weitere Schafe auf einer herrlich saftigen Wiese. Alles paletti so weit, vom Meer ist man durch eine hohe Klippe geschützt. 

Eines Tages aber droht Ungemach: ein etwas dunkleres Schaf nähert sich in einem geflickten, nicht  seetüchtigen Boot und bittet um Aufnahme. In seiner Heimat gab es Wolfsalarm, ein Flüchtling also. Ja, ja, man ist bereit zu helfen. Und schon fliegt ein leerer Eimer hinunter, damit der Dunkle das Wasser aus seinem lecken Boot schöpfen kann. Mehr geht leider nicht. Der Leser ahnt, wie die Geschichte enden wird. Es kommt die Flut – o Gott! – die Schafe oben auf der saftigen Wiese schließen die Augen. Im Buch folgen mehrere komplett schwarze Seiten. 

Zum Glück gibt es einen zweiten Schluss. Das dunkle Schaf steht plötzlich unter den weißen Schafen auf der Wiese mit dem saftigen Gras. Wie kam es dazu? “Ich hatte zum Glück Hilfe”, meint es – und schaut dem Leser, seinem Helfer, in die Augen.

Das Thema Migration ist schon längst in der Kinderliteratur angekommen. Auch wenn Kindern “Lesbos”, “Moria” oder “Flucht über das Mittelmeer” noch kein Begriff sein sollten, das Buch macht sie sensibel für das Gigaproblem des heutigen Europas. Doch es schildert und erklärt nicht aus einer erhöht-neutralen Position aus, es spricht direkt zum Leser und fordert ihn auf, aktiv zu sein. Fürs Überlegen bleibt keine Zeit, fürs Diskutieren ist es zu spät. – Glücklich die Kinder, deren Eltern die Zeit aufbringen, so ein Buch vorzulesen und mit ihnen drüber zu sprechen!

Wie Hugo und Hassan aus ihrem Stadtviertel einen Abenteuerspielplatz machen

Hugo und Hassan
von Kim Fupz Aakeson (Autor) und Rasmus Bregnhoi (Illustrator)
Verlag: Klett Kinderbuch
ISBN: 9783954702381

“Was geht?” schnappen Hugo und Hassan, die beiden rotzfrechen, ansonsten supercoolen Stadtjungen von Hipstern auf, die sich über das neue Griptape eines Boards unterhalten. Und wenden diesen Ausdruck und ähnliche beim Kakaotrinken gleich an – holterdipolter, so gut es eben geht. Das Leben ist bunt für die beiden, es geht runter und rauf, mal heiter, mal sauer, zart und knallhart. Sie schlagen sich, sie mögen sich. Ins Freibad mit Schwung und Arschbombe, aber nicht lange, denn dann kommt der Bademeister und wirft beide raus, gnadenlos. “Karate, das wär cool!”, meint Hassan. Und Hugo ist sofort dabei: “Boah, ja wenn einer frech ist, zack, bumm, erledigt.” Aber der Karate-Kurs ist ernüchternd. Kein Roundhouse-Kick, dafür Dauerlauf und Liegestützen. Neineinein, nichts wie weg!   

Für diese Art Jungen passt nur eine Buch-Form: die Graphic Novel. Kurze Texte, Kraftausdrücke aller Art, witzige Illustrationen mit flottem Strich, Sprach-Minimalismus, ansonsten wild und pralles Leben pur. Definitiv ein Jungenbuch, insbesondere für coole Kurzstreckenleser ab 11 Jahren. Grenzwertig die Story “Game over”, bei dem Nazis nach Lust und Können erschossen werden.