Ein biografisches Buch über Leonardo da Vinci zu schreiben kann nicht so schwer sein. Er, der Universalgelehrte mit geradezu überirdischer Interessenbreite, bietet jedem Autor Material genug. Schon die Liste von Leonardos Berufsbezeichnungen überwältigt: Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Für ein Kinderbuch von 40 Seiten mit einem großen Bildanteil ist da eher die Kunst des Weglassens gefragt. Doch auf diese Kunst verstehen sich die Autorin Jane Kent und die Illustratorin Isabel Muñoz.
Den Hauptteil der Information übernehmen die flächigen, naturalistischen Bilder, seien es Darstellungen von Leonardos Kindheit und Jugend in Vinci und Florenz, seien es Kleider, Räume im damaligen Look, aber auch Blicke auf seine Skizzen, seine fertigen Arbeiten oder aber seine technischen Visionen. Goethe war überwältigt von der Lebendigkeit des Bildes “Das letzte Abendmahl” aufgrund der Vielfalt der Handbewegungen, die hier zu sehen sind. Leonardos “Mona Lisa” gilt als eines der berühmtesten Bilder der Welt, hochinteressant seine Entwürfe für ein Fortbewegungsmittel für jedermann, das sich erst viel später als Fahrrad materialisieren sollte oder sein Hubschraubermodell oder … oder.
Wenn es Büchern gelingt, jungen Menschen die Augen für die gigantischen Möglichkeiten des menschlichen Geistes zu öffnen, haben sie ihren Job getan. Kaufempfehlung ab 8 Jahren!
Der Titel provoziert, aber er ist gut. Er fällt auf und macht neugierig, so soll es sein. Angesprochen dürften sich insbesondere Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren fühlen. Dass dieses Klientel aber in der Mehrheit nicht buchsüchtig ist, weiß Yvonne Struck, die Autorin, auch. Als Lockmittel reicht der Titel allein nicht, deshalb auch nicht so eng beschriebene Seiten, die empfindlich-zarte, von der Pubertät geplagte Jugendliche schockieren könnten, sondern ein Textformat, das ihres ist, das Twitter-Format: kurz, knapp, Schluss. Früher hätte man so etwas dem Tagebuch zugeeignet, doch hier handelt es sich lediglich um Gedanken des Augenblicks, keine niedergeschrieben Einsichten am Abend. Yvonne Strucks dritte Methode, sich dem zugegeben schwierigen Alter zu nähern, ist die Sprache. Bildungsbürger mögen die Nase rümpfen, doch für sie ist dieses Buch ja nicht gedacht. Die Jugendsprache ist nun mal anders: direkter, unverblümter, offener, witziger, aber auch grober, rücksichtsloser. Dürfen gedruckte Texte auf dem Niveau der gesprochenen Sprache sein? Auch Mark Twain hatte schon seine Not damit. Als sein “Tom Sawyer” herauskam, wurde er gleich wieder verboten: wegen der darin vorkommenden “Kraftausdrücken”. “Jungs sind Idioten. Mädchen auch.” ist anders. Hier geht es um eine Freundschafts- oder Liebesbeziehung unter Teenies, in der sowohl die körperliche Annäherung als auch die Wellenbewegungen im Gehirn nicht ausgespart werden. Und was sich im Denken abspielt, wird auch á la Twitter gesagt. Die Geschichte muss deswegen nicht schlechter sein, sie ist direkter.
Ein vierter Kniff aus der Trickkiste rundet das Ganze ab. Da der strukturelle Aufbau der Geschichte die Leser nicht überfordern soll, geht es ohne Umschweife gleich zur Sache und bleibt konsequent dabei. Größere Passagen des Nachdenkens und des philosophischen Grübelns fehlen, Nebenschauplätze und umfangreiche Verästelungen würden unnötig Komplikationen hervorrufen. Auch hier eine Verneigung vor Twitter und Co.
Yvonne Struck’s Plan jedoch geht auf. Das Buch liest sich flott und locker-leicht. Es motiviert und hält munter. An ein Aufhören mitten im Lesen ist hier nicht zu denken, da will man durch, finden sich Laura und Finn am Ende wirklich? Natürlich läuft bei den beiden nicht alles in Perfektion, eine solche Liebesgeschichte wäre auch zu öde. Laura und Finn mögen sich von Anfang an, flattern flugs in Wolke sieben hoch, ihre anfängliche emotional-seelische Vorsicht, typisch für die Pubertät, bremst jedoch. Yvonne Struck versteht es durchaus, die Zerbrechlichkeit und aufkeimende Zuneigung zart und feinfühlig in wunderschönen, zeitgemäßen Worten zu fassen. So denkt/sagt Finn einmal: “Zong! Ihre Augen in meinen. Wie vom Laster angefahren, nur in Schön. So fühlt es sich an.” Wer so jung ist, der darf auch Fehler machen. Und Laura und Finn zeigen sich da nicht anders als alle anderen. Kaum fangen die ersten Schmetterlinge in ihnen zu tanzen an, rennen sie zu ihren jeweiligen Kumpeln und plappern davon – in der Hoffnung auf die besten Tipps. Ja, sie erhalten Tipps, allerdings in anderer Art als gewünscht. Ein weiteres Problem tut sich auf, als Lara von Daniel die Einladung erhält, der Schulband beizutreten. Diese nimmt sie, die begeisterte Gitarrenspielerin, mit Freude an, stößt damit aber Finn in traumatische Zustände. Für ihn ist Daniel partout nur darauf aus, sich Lara zu schnappen. Die Freundschaft Lara-Finn gerät ins Schlingern, ihre Kumpels sind zur Hilfestellung nicht in der Lage – oder wollen ganz einfach nicht. Diesen Spannungshöhepunkt löst die Autorin mit einer fast schon brachialen Aktion: Daniel ist schwul, sickert allmählich durch. Im Gegensatz dazu klingt das Buch mit einer romantisch-bezaubernden Inszenierung von Lara aus. Am Ende sitzt der leidende Finn wieder in Wolke sieben – fester als er es je war.
Kommentar zu dieser Rezension von der Autorin (vom 9. Februar 2021):
Sehr geehrter Herr Hoffmann,
mit großer Freude habe ich Ihre Besprechung von „Jungs sind Idioten. Mädchen auch.“ in der Neuen Passauer Presse gelesen.
Das Buch ist ja nun schon zwei Jahre auf dem Markt, aber eine so treffende Analyse habe ich noch in keiner Rezension entdecken dürfen.
Ich kann bestätigen: Sowohl das Naserümpfen einiger Bildungsbürger als auch die Begeisterung von (normalerweise) lesefaulen Jugendlichen und ihren Eltern ist mir aus zahlreichen Rezensionen und Nachrichten sehr wohl bekannt. (Letztere sind zum Glück klar in der Überzahl.)
Kurz gesagt: Danke für Ihre detaillierte und wunderbare Rezension!
Jeder weiß es: Literarische Klassiker sind partout nicht totzukriegen. Aber was ist deren Geheimnis? Die Antwort findet man ganz einfach – beim Lesen. Scheinbar alterslos strahlen sie eine Kraft und Faszination aus, die beeindruckt und berührt. Damit dieser Zauber auch bei Grundschülern des Jahres 2021 verfängt, muss das Original inhaltlich gekürzt, sprachlich angepasst und mit aussagekräftigen, Beziehung schaffenden Bildern ergänzt werden.
Eigentlich ist es Professor Pierre Arronax aus Paris, der die Geschichte erzählt. Doch stiehlt ihm schon bald ein anderer die Show: Nemo, der skurrile Kapitän der Nautilus und erste Star-Figur des ganzen Fantasy-Genres.
Die Menschen der Jahre 1866 und 1867 sind besorgt wegen einer Reihe von Schiffsunglücken auf den Weltmeeren. Gerüchten zufolge soll ein riesenhaftes Seeungeheuer die Ursache allen Übels sein. Dem soll im Rahmen einer amerikanischen Mission der Garaus gemacht werden. Hierzu wird der Professor eingeladen. Die Überraschung ist gewaltig, als man entdeckt, dass das Untier ein Unterseeboot ist, das technisch seiner Zeit weit voraus ist. Der Professor, sein Assistent und Ned Land, ein Harpunier aus Kanada sind kurz darauf Mitglieder der Crew des seltsamen Nemo. Dieser, ein Technikfan, wie es Jules Verne wohl auch war, besitzt ein elektrisch betriebenes U-Boot, dessen Energie er dank eines neuen Verfahrens dem Meer entnimmt. Muss auch sein, denn Nemo hat mit der Welt oberhalb gebrochen: Die Menschen schlagen sich pausenlos die Köpfe ein, vergiften die Gewässer und vernichten die Wälder. Seine Welt liegt hier im tiefen Meer. Was die Neuankömmlinge in den nächsten Monaten zu sehen bekommen, raubt ihnen den Atem: traumhaft schöne Dschungel, fantastische Farbwelten der Korallen, gewaltige, noch nie gesehene Tiere. Erlebnisse ohne Ende. Der Professor glaubt sich im Forscherhimmel, Ned Land aber sorgt sich um sein Leben. Schließlich ist für Kapitän Nemo Auftauchen und an Land gehen keine Option.
Abenteuer-Einheiten im Minutentakt, lebendig und spannend. Immer noch, auch wenn das Original-Buch aus dem Jahre 1872 stammt. Der Bezug zu unserer Zeit macht sprachlos. Nemos Idee, der Erde zu entsagen und sich eine neue Welt zu suchen, macht sprachlos. Der Mega-Unternehmer Elon Musk aus den USA hat im Augenblick Ähnliches vor. Er will sich eine neue Lebensumwelt auf dem Planeten Mars schaffen.
Wer dieses Buch anfängt zu lesen, wird nicht wieder aufhören, bevor es zu Ende ist.
Leise, liebevoll, fast poetisch führen die Worte und Bilder den Leser durch das Bilderbuch: “Weißt du, mein kleiner Matrose, es wird ein Weile dauern, die Insel zu finden”, hatte mir meine Mama zu beginn des Abenteuers erklärt. “Aber meine Piratenmannschaft ist ein starkes Team und der Kapitän ein erfahrener Seebär!”, hatte sie mit einem Augenzwinkern hinzugefügt.
Im Bild nebenan schreitet die Mama des Kleinen tapfer auf die Gangway des Piratenschiffs zu, dessen Mannschaft so gar nicht nach Piraten aussieht. Ärzte in weißen Kitteln stehen an Deck und erwarten sie. Nach Lächeln ist hier niemandem zumute. Verständlich, denn das Piraten-Szenario trügt. Mama ist zu wöchentlichen Check-up ins Klinikum bestellt. Sie hat Brustkrebs und ist noch lange nicht über den Berg.
Die Wirkung dieses Buches vervielfacht sich, wenn man über die Autorin, Karine Surugue, Folgendes weiß: Sie selbst ist diese Mama (mit 43 Jahren), die gerade durch die Hölle auf Erden geht. Und sie, die Montessori-Lehrerin im Umfeld von Paris, will diesen dramatischen Krankheitsverlauf ihrem vierjährigen Sohn mitteilen. Aber wie macht man so etwas?
Kindgemäß soll die Vermittlung sein, der Wahrheit entsprechend, nicht zu trostlos, mit einem Funken Hoffnung.
Da die Mama weiß, dass ihr Sohn begeistert ein Piratenbuch verschlingt, baut sie ihren “Fall” in diese Subkultur ein: Jeden Donnerstag geht sie auf die Reise, um die Schatzinsel zu finden. Nicht immer ist die See ruhig. Immer wieder nähern sich ihrem Schiff Seeungeheuer, die es abzuwehren gilt. Ihr Körper weist Narben auf; klar, echte Piraten haben Narben. Hin und wieder muss sie sich übergeben, das kommt von der Seekrankheit. Sie lässt sich ihre Haare abrasieren und trägt stattdessen Seeräubertücher. Verständlich, Piraten machen das so. Und dass Mama öfter sehr müde ist und sich hinlegen muss, versteht der Kleine auch. Seeräuberei ist einfach wahnsinnig anstrengend.
Der Kampf aber lohnt sich. Am Ende findet Mama mithilfe der Arztpiraten die Schatzinsel und vertreibt all die Seeungeheuer.
Karine Surugue lässt in einfühlsamer, faszinierender Weise ihren Sohn Anteil an ihrer Krankheit haben. Nicht nur das, er darf fest davon ausgehen, dass er seiner Mama, die so mutig und tapfer kämpft, helfen kann. Nicht das Leid steht im Mittelpunkt, sondern das ernsthafte Ringen mit der Krankheit und die Hoffnung auf ein gutes Ende. Schließlich findet Mama die Schatzinsel – und der Jubel des Kleinen ist unbeschreiblich. Surugues Text und Rémi Saillards Illustrationen summieren sich zu einer atemberaubenden Einheit.
In vielen Kulturen wurde und wird unser Planet gerne als “Mutter Erde” personifiziert, das Weibliche als der Urgrund alles Fruchtbaren und Schöpferischen gesehen. Die Autorin Patricia MacLachlan und die Illustratorin Francesca Sanna verwenden auch diese Metapher, mit dem Unterschied allerdings, dass ihre Urmutter als Freundin mit kindhaften Zügen und brauner Hautfarbe auftritt. Deren Funktion aber ist dieselbe: die Sorge um die Schöpfung treibt sie um und lässt sie zur Hüterin werden. Sie, die körperlich mit der Natur verwoben scheint und in deren Rhythmus agiert,nimmt alles Große und Winzige wahr, ob scheidenden Winter oder das Krächzen der Krähen. Ihren übergroßen, sehr aufmerksamen Manga-Augen entgeht nichts. Sie beobachtet, nimmt teil an der Kostbarkeit des Lebens um sie herum und greift helfend ein, wenn es sein muss: Die Schimpansin geleitet sie zu ihrem Nest für die Nacht, das Zebrakind zu ihrer richtigen Mutter; sie pflegt das wispernde Gras der Prärien und die Flechten der Tundra, sie gießt den Sommerregen und lässt Herbstwinde durch die Glieder der Bäume fegen. Und siehe, alles ist gut.
Im Gefüge von Zeit und Leben, von Rhythmus und Sinn geht das Jahr um. Wie der Inhalt des Buches, so auch die äußere Form. Wellenförmig abgerundet und farblich abgestimmt deuten die Seiten beim Blättern ebenfalls das Ablaufen eines Jahres an. Umwerfend die faszinierende Bildwelt von Francesca Sanna. Liebevoll komponierte Laser-Stanzungen ergeben Fenster, die den einen Aspekt mit dem anderen wunderschön verbinden und das Buch auch zu einem haptischen Erlebnis werden lassen. Aller Aufwand ist gerechtfertigt, er soll Achtsamkeit und Wertschätzung unserer Erde gegenüber ausdrücken.
Ach ja, der Mensch kommt darin nicht vor, auch nicht die irren Probleme, mit denen er zu kämpfen hat. Besser so. Dieses Buch – ein Kunstwerk, vor allem aber ein Festakt mit Würdigung von Mutter Erde.