Bücher werden ihrer Inhalte wegen geliebt. Wirklich? Doch dazu bräuchte es des physischen Buches nicht, das übernimmt heutzutage in digitaler Version jedes noch so kleine Gadget. Wo ist dann aber der Zauber zu finden, der für viele einem gebundenen Buch anhaftet – im Gegensatz zu dem eher als kühl empfundenen metallenen Gerät? Das Berührende, zauberhaft Magische steckt dann wohl mindestens zum Teil im Haptischen, im Sinnlichen. Nach Astrid Lindgren spürt man beispielsweise “am Geruch, wie herrlich es wird, dieses Buch zu lesen.”
Der Coppenrath Verlag hatte sicherlich die traumhaft-schönen Folianten des Mittelalters mit dem Überschwang an Ornamentik rund um eine Initiale im Blick, als er sich entschloss, die Buchreihe “Klassiker MinaLima” 2015 aus der Taufe zu heben. Im Oktober 2020 erschien “Die Abenteuer des Pinocchio” in diesem Geiste, einem mit Herzblut und ultimativen Sinn für Ästhetik geschaffenem Buch-Kunst-Werk. Gut lässt sich die Betonung auf Harmonie zwischen Form und Inhalt erkennen. Ein so liebevoll, aufwändig gemachtes Buch kann nicht ganz billig sein, aber es stellt einen Mehrwert dar. Neben seinem jahrhundertelang frisch gebliebenen Inhalt fasziniert die visuelle Gestaltung, das Buch als Schatzkästchen im Wohnzimmer. Der Betrachter nimmt es staunend zur Hand und blättert andächtig darin. Pinocchio, ein Klassiker, der sich in dieser “Prachtausgabe” sichtlich wohlfühlen dürfte. Die interaktiven Elemente – wie Finger- und Anziehpuppen und einem kleinen Theater – laden dazu ein, sich auch haptisch mit dem Geschehen zu befassen.
Geschichten wie „Die Abenteuer des Pinocchio“, denen man im Laufe der Jahrhunderte das Signum “Klassiker” verlieh, sind von einer Aura umgeben, die sie herausheben aus der Fülle von Alltagsware. Zu Recht. Sie berühren zeitlos-fundamentale Brennpunkte des Lebens, zeigen den Menschen in seinen Eigenarten, seinen Schwächen und Stärken, sind in einer kraftvollen Sprache formuliert und haben den Status der Zeitlosigkeit erreicht. Auch nach vielen Jahren noch spürt man ihre Ausstrahlung. Ob Alt oder Jung, alle werden in ihrer Verstandes- und Gefühlswelt angesprochen.
So darf man “Die Abenteuer des Pinocchio” als lustige, skurrile Erzählung mit nettem Unterhaltungswert sehen, aber auch als tiefgründiges, komplexes Sammelsurium eines Menschenlebens, der sich im Gestrüpp des Alltags zurechtzufinden sucht. Die Geschichte erlaubt beides.
Spannender ist natürlich der Blick in die Tiefe dieser Marionette, die eigentlich nur einen Wunsch hat, ein echter Junge zu werden. Doch dem gehen Prüfungen vorher, die bestanden werden müssen. Nicht ganz einfach für den zunächst recht einfältigen Pinocchio, seinen Weg und seine Persönlichkeit in einer Welt zu finden, in der das Gute und das Böse allgegenwärtig angeboten werden.
Pinocchio will ja zur Schule gehen, doch da gelangt er an eine Kreuzung, Sinnbild des Lebenswegs. Er muss sich entscheiden, Verlockungen auf der einen Seite, das sinnvolle Arbeiten auf der anderen Seite. Nur allzu oft wählt er die falschen Freunde – und muss in letzter Minute von den guten Geistern aus höchster Not gerettet werden. Doch zum Glück bleiben diese ihm treu und zeigen unendlich Geduld und Nachsicht mit ihm. Gepetto, sein Vater, ist so einer, ehrlich und gutmütig bis zur Selbstaufgabe, aber auch die blaue Fee, die seine Mutter symbolisiert. Eine echte Mutter hatte er ja nie.
Mag sein Lebensweg holprig sein, Pinocchio wächst und reift an seinen Fehlschlägen. Er vernimmt die Stimme seines Gewissens immer besser, sieht ein, dass Lernen seinem Leben eine gute und stabile Grundlage vermittelt und erkennt schließlich, dass Freiheit auch Verantwortung und Pflicht bedeutet.
Als letzter Schubs in Richtung Läuterung und Erkenntnis erweist sich sein Aufenthalt im Bauch eines Wals, dem biblischen Jona ähnlich, in dem er Geppetto nach langer Zeit wieder trifft.
Der Leser darf aufatmen, als Pinocchios Entwicklungs-Reise sich dem Ende nähert. Eines Tages wacht er als richtiger Junge aus Fleisch und Blut auf.